Zwei syrisch-orthodoxe Gemeinden in Harburg und Neugraben helfen den Christen unter den Flüchtlingen. Doch die zu finden, ist schwierig

Harburg. Aziz Acan, 55, lebt seit 40 Jahren in Harburg und arbeitet als Schlosser bei der Sietas-Werft. Moses Dogan, 41, kam in den 1980er-Jahren hierher und ist bei Daimler-Benz in Hausbruch tätig, ebenfalls als Schlosser. Beide stammen aus demselben kleinen Dorf in der Osttürkei, 50 Kilometer von der syrischen Grenze. Beide können selbstverständlich Deutsch, Türkisch, Kurdisch und verstehen etwas Arabisch. Aber zu Hause, bei Frau und Kindern, sprechen sie ihre Muttersprache. Aramäisch, die Sprache Jesu. Idiom der syrisch-orthodoxen Kirche von Antiochien, die als älteste christliche Gemeinschaft überhaupt gilt.

Das Attribut „syrisch“ weist nicht etwa auf das Land im Nahen Osten hin. Die aramäische Sprache wird auch „Syriac“ genannt. „Syrisch“ ist gleichbedeutend mit „christlich“. Der größte Teil der heute in Deutschland lebenden rund 100.000 Gläubigen stammt auch nicht aus Syrien, sondern wie Aziz und Moses aus dem Südosten der Türkei. Vor Gewalt und Repressalien sind die meisten Christen dort mittlerweile geflohen – wie aus so vielen anderen Regionen des Orients.

In Hamburg gibt es vier syrisch-orthodoxe Gemeinden, davon zwei südlich der Elbe: St. Maria & St. Shmuni in Sinstorf sowie Mor Dimet in Neugraben. Moses Dogan ist Pfarrer, Aziz Acan Vorstand der Kirche St. Maria an der Winsener Straße. Obwohl beide seit früher Jugend in Harburg leben, auch gut integriert sind, wie sie betonen, fühlen sie sich als Vertriebene.

Als solche sind sie besonders sensibel für die Leiden ihrer Glaubensbrüder und -schwestern, die unter Krieg und Verfolgung durch die Terrormiliz des sogenannten Islamischen Staats leiden. In St. Maria werden Geld, Kleidung und haltbare Lebensmittel gesammelt und über Kontakte des syrisch-orthodoxen Erzbistums und das Patriarchat in Damaskus in die Krisengebiete geschafft. „In Aleppo haben Islamisten den syrisch-orthodoxen Erzbischof und einen griechisch-orthodoxen Geistlichen ja schon vor mehr als einem Jahr verschleppt. Kein Mensch weiß, ob sie noch leben“, klagt Moses Dogan. Man könne nur noch beten.

Unterstützung christlicher Flüchtlinge, die es bis Harburg geschafft haben, bedarf weniger himmlischer als verwaltungstechnischer Hilfe. Denn weder in der Zentralen Erstaufnahme im ehemaligen Postgebäude am Harburger Bahnhof noch in anderen Unterkünften werden Religionszugehörigkeit oder Herkunftsort erfasst, wohl aus Datenschutzgründen. Deshalb sei es schwer, die wenigen Anhänger Jesu in der Masse der Muslime überhaupt ausfindig zu machen, erklärt der Pfarrer. „Es würde uns helfen, wenn es entsprechende Listen, Hinweise und eine engere Zusammenarbeit gäbe“, sagt Moses Dogan.

So bleibt ihm nur der Appell, regelmäßig in die Flüchtlingsunterkünfte zu gehen, um dort nach Glaubensbrüdern und -schwestern zu suchen. Einige Gemeindemitglieder folgen seinem Aufruf und haben auch Erfolg. An der Vesper am Sonnabend und am sonntäglichen Gottesdienst nehmen jetzt zumeist auch eine Handvoll Flüchtlinge teil. Andere in Harburg Gestrandete genießen die Unterstützung der Gemeinde, sehen sich aber nicht in der Lage, zum gemeinschaftlichen Gebet zu kommen.

So wie eine Witwe mit drei Kindern und Bleiberecht für zwei Jahre. Für Busfahrten zur Kirche reicht das Geld nicht. Aber sie hat inzwischen eine eigene Wohnung in der Denickestraße. Die gehört einem der Gemeindemitglieder von St. Maria. Anfang März werden nach Monaten in Massenunterkünften noch eine andere Flüchtlingsfamilie und eine Einzelperson in zwei weitere Wohnungen jenes Mannes einziehen.

Unter den strenggläubigen Christen gibt es bundesweit engagierte Helfer. In einem syrisch-orthodoxen Kloster nahe Höxter sind 500 Flüchtlinge untergebracht. Christliche Heimatlose werden beherbergt, seelsorgerisch betreut, bei Bedarf bei Behördengängen begleitet und juristisch beraten. Schließlich ist das Christentum ja die Religion der Liebe, wie Pfarrer Dogan betont.

Beim Islam allerdings hört für ihn die Freundschaft auf. Weder er selbst noch Aziz Acan sind bereit, auch Muslimen zu helfen. Über Jahrtausende erlittenes Leid, von Generation zu Generation übertragene Abneigung und Misstrauen sowie eigene negative Erlebnisse mit Anbetern Allahs sind für den Pfarrer und den Kirchenvorsteher von St. Maria offenbar unüberwindlich. Vieles spricht dafür anzunehmen, dass die meisten Schäfchen der Herde auch diesbezüglich dem Vorbild ihres Hirten folgen.

Aziz Aygün ist da unabhängig. Er besucht sowohl die Sinstorfer als auch die Neugrabener syrisch-orthodoxe Kirche, weil er sich zwar dem Glauben, nicht aber einer Gemeinde zugehörig fühlt. Er ist Harburger, SPD-Mitglied und Unternehmensberater im Bereich Energie. Einen großen Teil seiner eigenen Kraft und Zeit steckt er in Flüchtlingsbetreuung, seit im Sommer vergangenen Jahres die Zentrale Erstaufnahme eröffnet hat.

Und: Er macht keine Unterschiede. „Ob Christ oder nicht, spielt für mich keine Rolle. Ich helfe auch Muslimen.“ Im November hatte er zu einer öffentlichen Veranstaltung eingeladen, bei der eine christliche, eine kurdische und eine jesidische Familie von ihrem Flüchtlings-Schicksal berichtete. „Das Interesse der Bürger war rege. Mehr als hundert Besucher waren da“, freut er sich.

Aziz Aygün ist Politiker. Vor der Bürgerschaftswahl hatte er seine sozialen Bemühungen kurzfristig zurück gefahren, wegen des Wahlkampfs. Jetzt will er wieder durchstarten. Geplant hat er ein Kochprojekt für Flüchtlinge in den Räumen der Alevitischen Gemeinde an der Winsener Straße. Im Haus einer Religion also, die im 13. und 14. Jahrhundert in Anatolien entstanden ist und Elemente des schiitischen Islams, der vorislamischen Religionen Mesopotamiens sowie der islamischen Mystik vereinigt.

Das Erstaunliche: Die Gläubigen verstehen sich trotzdem nicht als Muslime. „Christen sind es aber auch nicht“, sagt Aziz Aygün. Ja, was denn dann? Er weiß keine Antwort. Ihm ist diese Frage auch nicht wichtig.