Richter Jörg L. war ein hohes Tier im Justizprüfungsamt. Nun steht er selbst vor Gericht. Aus lauter Güte? Eine Spurensuche

Lüneburg. Seine Kiste hat er nie abgeholt. Als er seine privaten Sachen packen sollte, setzten seine Synapsen aus. Als ob die Muskeln einfach nicht ausführen wollten, was das Gehirn ihnen befahl. Oder das Gehirn nicht wusste, was es befehlen soll. Als Jörg L. sein Büro als Referatsleiter im Landesjustizprüfungsamt räumen musste, war ihm vielleicht schon das bewusst, was er ein Dreivierteljahr später in seinem Geständnis vor Gericht sagen würde: Dass er vor dem Scherbenhaufen seines Lebens steht.

Jörg L. hat Referendaren die Aufgaben und Lösungen für Klausuren und mündliche Prüfungen des zweiten Staatsexamens verraten, manchmal umsonst – wenn es um eine intime Beziehung ging – und meistens gegen mehrere Tausend Euro. Das hat der 48-Jährige gestanden. Am dritten Verhandlungstag vor dem Landgericht Lüneburg. Gesagt, das sei der größte Fehler seines Lebens gewesen. Den er nicht wieder gut machen könne. Der ihm zutiefst leid tue.

Das Verfahren läuft dennoch weiter wie gehabt. Die Kammer lädt Zeugen, die Kammer befragt Zeugen. Denn mit einem Geständnis ist es in der deutschen Strafprozessordnung nicht getan – auch das muss verifiziert werden.

Und so hat die Kammer hat auch den Referatsleiter für das zweite Staatsexamen noch einmal geladen, K., einen direkten Kollegen von L., einen aus der Gruppe der Sieben, die als hauptamtliche Prüfer in das Amt abgeordnet waren.

Die Kiste mit den privaten Sachen des Referatsleiters für das erste Staatsexamen steht noch immer im Keller des Landesjustizprüfungsamts in Celle, erzählt K. vor Gericht. Es war später Vormittag am 26. März, als Jörg L. seine Sachen packen sollte. „Er hat keine Anstalten gemacht, irgendeinen Kugelschreiber zu nehmen. Er saß nur da“, erinnert sich der Kollege. Jörg L. habe gesagt, jetzt müsse er sich wohl einen Anwalt nehmen. Er selbst sagt nur: „ja“.

Bis zu diesem Tag, als der beliebte, fleißige, kollegiale Mann in seinem Büro saß und sich nicht rührte, bis zu diesem Tag hat K. keinerlei Änderung im Verhalten des Kollegen festgestellt. Als 2013 zwei erste Verdachtsfälle im Amt auftauchten, habe L. sich nicht auffällig verhalten.

Dann kommt der 15. Januar 2014. Ein Richter des Landgerichts Stade rief in Celle an, bei Mitarbeiter K., dem späteren Zeugen. Er erzählt: Eine Kollegin habe ihm erzählt, eine ehemalige Referendarin habe ihr erzählt, ihr Hamburger Repetitor habe ihr niedersächsische Klausuren angeboten. „Ich erzählte es L. Er reagierte nicht auffällig. Auch mit dem Wissen von heute: Mir ist nichts aufgefallen.“ Dann habe L. drei Wochen Urlaub gehabt, danach immer mal wieder nachgefragt, was daraus geworden sei. „Ich bin schmallippig geworden.“

Er selbst wusste nur, dass L. mal Repetitor in Hamburg gewesen ist, und dass er den Repetitor kennt. Ansonsten: kein einziger Verdachtsmoment. „Ohne staatsanwaltliche Ermittlungen oder eine Person, die etwas sagt, hätten wir es nie herausgekriegt.“

Am 7. März stehen der Oberstaatsanwalt und eine Staatsanwältin aus der Verden vor seiner Tür, der Zentralstelle für Korruption. Als die drei noch in seinem Büro sprechen, läuft Jörg L. über den Parkplatz. Dann verlassen die Staatsanwälte das Dienstzimmer. Und konfrontieren L. mit einem Stück Papier. Dem Durchsuchungsbefehl.

Jörg L. sei ein passionierter Prüfer gewesen, sind sich alle Kollegen einig, die vor Gericht aussagen. Es scheint, als sei seine Leidenschaft irgendwann umgekippt in Machenschaft. Während die beiden anderen befragten Prüfer sich streng an die erzielten Punkte halten, auch wenn einmal nur ein halber zum Bestehen fehlt, war der 48-Jährige für mehr Milde bekannt, individuelle Auslegung, persönliche Wertung. Dass ein Kandidat, der im ersten Durchgang durchgefallen war, das Examen verdient habe und ein guter Jurist sei, dem er habe helfen wollen, das waren Sätze, mit denen der Richter in seinem Geständnis hantiert hat.

Unter Kollegen habe man mitunter darüber gesprochen, wie mit Prüflingen umzugehen sei, denen nur ein oder ein halber Punkt gefehlt habe. Vor Gericht stellte Kollege K. klar, dass jegliche Änderung des Ergebnisses im Nachhinein, auch nur ein Gespräch mit dem Prüfer, für ihn und seinen Referenten niemals in Betracht käme. „Aus Gründen der Chancengleichheit.“

Jörg L., sagte der Kollege, habe das anders gesehen.

Der Prozess geht weiter. Heute. Mit der Aussage einer Beamtin der Kriminalpolizei, am 20. Januar mit weiteren Kollegen aus dem Landesjustizprüfungsamt. Und am 22. sowie 27. Januar mit den elf Referendaren, denen der Prüfer Inhalte und Lösungen des zweiten Staatsexamens angeboten hat.