Als Vorsitzender der „Hamburger Stiftung Asien-Brücke“ habe ich 2013 das Projekt der Indien-AG am Friedrich-Ebert-Gymnasium in Heimfeld gefördert.

Hamburger Schulen haben erstaunlich viele Projekte in Afrika, in Indien nur wenige. Mich interessierte, wie sich dieses Schulprojekt entwickelt hat. Ich treffe mich mit Birgit Glöyer, Lehrerin für Französisch und Geographie, und mit ihrer Tochter Jeanine. Erfahre, dass die Familie schon lange eine intensive Beziehung zu Indien hat. Jeanine: „Das kam, als ich auf dem Behandlungsstuhl bei unserem Zahnarzt saß. Dr. Michael Ohm hat eine Kinderhilfe in Indien gegründet. Da fing ich Feuer.“ Nach dem Abitur reiste Jeanine nach Chittapur. Ihr Entschluss stand fest: „Ich studiere Internationale Beziehungen.“

In Dresden machte sie ihren Bachelor. Indien ließ sie nicht los. Sie brach wieder nach Indien auf. Lebte drei Monate in einem Kloster bei den Nonnen, die sich um Straßenkinder kümmerten. Sie erlebte auch die Unterdrückung der Frauen, Abhängigkeit von ihren Männern, keine Arbeit und Armut. Die selbstbewusste junge Frau beschloss, ein Frauenförderungs- und Fair-Trade-Projekt zu gründen. Sie brauchte viel Überzeugungsarbeit. Aber schließlich überzeugte sie die Nonnen von ihrer Idee. Jeanine lernte selbst die Frauen an zu nähen. Auf alten mechanischen Maschinen. Die Ergebnisse waren zunächst wenig brauchbar für ihr ehrgeiziges Ziel. Sie wollte ein Unternehmen gründen und die Produkte der Nähwerkstatt in Deutschland verkaufen.

Das Design sollte traditionell indisch sein, aber auch den Käufern in Deutschland gefallen. Was ein Qualitätsmanagement ist, hatte Jeanine studiert. Wie man hier bei uns eine Firma gründet, musste sie lernen. Nachhaltigkeit, ökologisch sauberes Wirtschaften und Gerechtigkeit als Grundprinzip verträglichen Wirtschaftens hat sie verinnerlicht.

Inzwischen stehen in der Nähstube in Chittapur zwei elektrische Nähmaschinen. Die Frauen stellen wunderschöne Saris her. Um einen Hersteller für hochwertige Stoffe zu finden, ist sie vierzig Stunden mit dem Zug durch Indien gefahren! Zusammen mit ihrer Geschäftspartnerin Caroline. Die Stoffe müssen den hohen Ansprüchen ökologischen Wirtschaftens und den Kriterien von Fair-Trade genügen. Seiden-, Leinen- und Baumwollstoffe, alle mit Naturfarben gefärbt. Die Palette der Produkte der Nähstube ist groß: Kleider, Blusen, Jutebeutel, Feder- und Handytaschen… Sie vertreiben auch schönen indischen Schmuck. Jeanines Eltern haben sie in ihren Plänen immer unterstützt. Ihre Mutter ließ sich von der Tochter anstecken. Brach selbst nach Indien auf, um das Projekt ihres Zahnarztes und das ihrer Tochter kennenzulernen. Inzwischen fährt sie alle zwei Jahre dorthin. Aber das war ihr nicht genug. Sie beschloss, an ihrer Schule eine Indien-AG zu gründen.

Zusammen mit einem ihrer Schüler überzeugte sie den Direktor, Volker Kunze, davon, Paten für 30 Kinder zu finden. Ziel: die Kinder, die harte Kinderarbeit in einem Steinbruch verrichten mussten, um ihre Familien zu ernähren, zu beschulen, sie mit Schulkleidung zu versorgen und sie medizinisch zu betreuen. Die Schülerinnen und Schüler der AG wurden zu Multiplikatoren des Projekts. Sie gewannen ihre Eltern für eine Patenschaft, veranstalten im Wechsel zweier Jahre einen großen Sponsorenlauf und ein Sommerfest der Schule. Dafür backen sie Kuchen, gehen in Altenheime und helfen dabei, die nötigen 8000 Euro für ein Jahr aufzubringen.

Inzwischen haben Mutter und Tochter ihre beiden Projekte verbunden. In den Pausen und beim Sommerfest verkaufen die Schüler die Erzeugnisse des Nähprojekts. Immer mehr Schüler haben indische Feder- und Handytaschen. Birgit Glöyer träumt davon, dass auch die Schul-Shirts in Indien hergestellt werden.

Die Firma von Jeanine mit Sitz in Berlin und Caroline wächst. Ein Informatikstudent hat die Website eingerichtet und pflegt sie. Übers Internet haben die Beiden 25 Botschafter in ganz Deutschland gewonnen. Die veranstalten Indienabende und verkaufen die Produkte auf Märkten. Alle machen das ehrenamtlich. So engagiert und begeisterungsfähig sind die jungen Leute!

Jeanine betont in unserem Gespräch: „Mir geht es weder um Mitleid noch um ein Spendenprojekt. Ich will mehr. Ich will ein selbstfinanziertes Bildungsprojekt. Für die Frauen in Indien, für die Schüler und die Menschen hier. Unsere Frauen werden täglich in Lesen und Schreiben unterrichtet. Wir zahlen ihnen einen gerechten Lohn. Sie sind krankenversichert.

Die Frauen sollen selbstbewusst und selbstständig werden. Sie leisten hochwertige Arbeit. Sie haben die gleiche Würde wie ich und meine Geschäftspartnerin Caroline. Wie die Schüler und Lehrer hier am FEG, wie meine Eltern, wie alle Deutschen.“ Zum Schluss kann sie sich einen Seitenhieb auf die entfesselte Form des Wirtschaftens nicht verkneifen: „Wir haben ein Angebot eines großen Modekonzerns erhalten. Der vorgesehene Vertrag war ein Knebelvertrag. Die waren bei uns an der falschen Adresse!“

Helge Adolphsen ist emeritierter Hauptpastor der St.-Michaelis-Kirche Hamburg