Ein neues Programm der Leuphana Universität in Lüneburg will die Lücke zwischen Beratung und Therapie schließen

Lüneburg. Nach einem stressigen Tag im Büro ein schönes Feierabendbier: ein lieb gewonnenes Ritual für viele. Dass der Grad schmal ist zum ungesunden Konsum von Alkohol: bekanntes Problem für die meisten. Wer genauer hinsehen will oder auch etwas verändern will im eigenen Verhalten, kann jetzt an einem neuen Programm der Leuphana Universität Lüneburg teilnehmen.

Es gibt Aufklärungskampagnen wie „Kenn dein Limit“, und es gibt Beratungsstellen, Entzugskliniken und Therapien. Dazwischen gibt es fast nichts. Die Lücke schließen wollen Forscher aus dem Bereich „GesundheitsTraining. Online“ (GET.ON) der Leuphana Universtität: Der Psychologe Leif Boß, 31, hat dort ein Online-Programm entwickelt, mit dem Erwachsene ihren Alkoholkonsum analysieren und – sofern gewollt – verändern können.

Ein Forscherteam rund um Prof. Heleen Riper von den Unis Amsterdam und Lüneburg hat Erkenntnisse aus 14 international durchgeführten Studien über die Wirksamkeit solcher Trainings zusammengefasst, sagt Leif Boß: „Dabei zeigte sich, dass viele solcher Trainings helfen können, den Alkoholkonsum zu reduzieren. Einer der Vorteile ist, dass die Teilnehmer anonym bleiben können. Diese Möglichkeit scheint gerade bei alkoholbedingten Problemen wichtig zu sein, damit entsprechende Angebote in Anspruch genommen werden.“

Themen wie Depression oder Burn-out seien mittlerweile nicht mehr mit so großen Hemmschwellen besetzt wie der Alkoholkonsum, beobachtet der Psychologe. Dabei geht es in seinem Training nicht um die Behandlung vorhandener Erkrankungen wie etwa Alkoholsucht. „Es geht um Prävention, den Schritt davor“, betont Boß. „Alles andere ist in Deutschland auch gar nicht erlaubt.“

Wie sich das eigene Verhalten konkret verändern lässt, dazu gibt es seiner Ansicht nach allerdings zu wenig Angebote und Hilfestellungen. Er hat sich daher das Thema „Berufsbezogener Stress und Alkoholkonsum“ für eine Dissertation ausgesucht.

„Alkoholkonsum ist häufig eine Folge von Stress am Arbeitsplatz“, sagt Boß. Und dieser Konsum kann problematisch werden.

Erster Schritt des Trainings ist die Feststellung von Gewohnheiten, also das Führen eines Tagesbuchs: Wann habe ich wie viel getrunken? Wie viel will ich in den nächsten Tagen trinken? Wie geht es mir dabei? Gibt es Auslöser?

Zentrales Thema seien die mit dem Alkoholkonsum verbundenen Gefühle: Trinke ich Alkohol, um negative Gefühle wie Stress, Frust oder Ärger loszuwerden? Um positive Gefühle wie Mut, Lockerheit oder Entspannung herzustellen? Dann geht das auch anders.

„Vielen fällt es schwer, ihre Gefühle zu benennen“, sagt der Psychologe. Ist das, was ich da gerade spüre, Ärger oder Enttäuschung? Das zu formulieren will erst einmal gelernt sein.

Zweiter Schritt: die Gefühle auszuhalten. Zu akzeptieren, zu tolerieren. Professor Matthias Berking hat dazu ein sogenanntes Emotionsregulationstraining entwickelt. Ziel: Auch negative Gefühle auszuhalten und sich klar zu machen: Sie gehören dazu, sind zwar erst einmal unangenehm, aber mir passiert nichts Schlimmes. Sie sind vergänglich. Und ich kann danach meinen Fokus wieder auf etwas Positives lenken.

„Unser Ziel ist, den Teilnehmern möglichst viele Freiheiten in ihren Zielen und der Gestaltung des Trainings zu lassen“, sagt Boß. „Es ist nicht so, dass hier von vornherein klar ist: Das Ziel ist die Abstinenz.“

Noch befindet sich das Training in der Erprobungsphase, aber nach der Evaluierung von insgesamt rund 500 Probanden soll es einer breiteren Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden – zum Beispiel durch die Zusammenarbeit mit Unternehmen und Krankenkassen. Zwei Krankenkassen kooperieren bereits jetzt mit der Universität: die Barmer GEK sowie die Kaufmännische Krankenkasse Hannover.

Die Hemmschwelle der üblichen Beratungsstellen ist für viele immer noch zu hoch, das weiß auch Gabriel Siller, Geschäftsführer des Diakonieverbands in Lüneburg, zu dem die Fachstelle für Sucht und Suchtprävention „drobs“ gehört. „Wir erreichen vielleicht zehn Prozent. Es kann gar nicht genug Angebote geben in diesem Bereich.“ Auch Siller sagt, dass es eine Lücke gibt zwischen Aufklärung und Therapie. „Es ist gut, wenn hier eine Zwischenstufe geschaffen wird. Denn viele können sich mit dem Gedanken, ein Alkoholproblem zu haben, nicht anfreunden. Und der Begriff Therapie klingt für viele immer noch abschreckend.“

Auch die „drobs“ verstehe sich keinesfalls als „Abstinenzorganisation“, auch sie bietet Gruppen zum Thema kontrolliertes Trinken an. Kurz: Wer zur „drobs“ geht, muss kein Alkoholiker sein. „Für die Teilnehmer ist es wichtig, selbst festzustellen, wo sie stehen. Eine Art Selbstdiagnose“, sagt der Sozialpädagoge und Psychotherapeut. So gibt es kein schwarz-weiß-Denken zwischen „Alkoholiker“ und „kein Problem“, sondern es gibt Stufen vom ungefährlichen Genusstrinken über die Gewöhnung und den Missbrauch bis zur Abhängigkeit. Siller: „Die Menge allein ist es nicht, die dabei zählt.“

Wichtig ist laut dem Sozialpädagogen auch die eigene Erkenntnis, dass es einen Vorteil bringt, weniger zu trinken. „Denn seien wir ehrlich: Die Einsicht, dass es ungesund ist, die haben wir alle.“

Für eine Alternative zum Feierabendbier gibt es übrigens kein Patentrezept. Aber verschiedene Möglichkeiten: zum Beispiel neue Rituale zu beginnen, wie etwa ein Entspannungsbad, Freunde zu treffen oder progressive Muskelentspannung. Oder direkt nach der Arbeit zum Sport gehen. Das kommt ganz darauf an, sagt der Psychologe Leif Boß, ob das Bier am Feierabend eher den Körper oder den Geist entspannen sollte. Und das können die Teilnehmer in der Studie herausfinden.