Sozialdemokratin Ruth Zuther aus Tostedt kehrt als Ehrenmitglied des Kreistages auf die politische Bühne zurück

Tostedt. Ruth Zuthers Wohnzimmerwand liest sich wie ein Stück geschriebene Geschichte: Unzählige Urkunden, Ehrenteller, Auszeichnungen und Bilder aus der Behindertenwerkstatt in Buchholz zeigen, wie umtriebig und unermüdlich die 88 Jahre alte Tostedterin die kulturelle, soziale und politische Vergangenheit der Region geprägt hat. Seit Kurzem gehört auch eine Urkunde und eine silberne Medaille des Landkreises Harburg zu dem bunten Sammelsurium. Landrat Rainer Rempe ernannte die „Grande Dame der Kreispolitik“ zum ersten und bislang einzigen Ehrenmitglied des Kreistags. Im neuen Jahr will sich Ruth Zuther nun wieder kräftig ins politische Geschehen in der Region einmischen.

Ruth Zuther lernte früh, wie wichtig es ist, für andere Menschen einzustehen: Im November 1944 wurde sie von der Schulbank weg von den Nazis zum Reichsarbeitsdienst eingezogen. Sie gehörte zu der in Lodz lebenden deutschen Minderheit, in dem von den Deutschen besetzten Polen. Während der Kriegsjahre floh sie als 18-Jährige nach Deutschland, war dabei immer wieder auch auf fremde Hilfe angewiesen. Auf der Suche nach einer neuen Heimat landete sie 1953 in Tostedt. Wenig später begann sie eine Ausbildung zur Lehrerin, arbeitete bis zu ihrer Pensionierung im Kernort der Samtgemeinde Tostedt in der Hauptschule, unterrichtete Religion, Geschichte und Hauswirtschaft. „Ich war immer sehr gern in der Schule, wollte meinen Schülern einen guten Start ins Leben ermöglichen“, erzählt die Pädagogin.

Doch ihr tatkräftiges Engagement zum Wohle der Allgemeinheit beschränkte sich schon bald nicht mehr nur auf den Klassenraum. „Es gab damals in Tostedt vieles, das mir nicht gefallen hat. Daran wollte ich was ändern“, erzählt Ruth Zuther. Sie trat in den Ortsverein der SPD ein, kandidierte 1979 um Amt des Bürgermeisters, das sie nach gewonnener Wahl bis 1982 bekleidete. Wenn sie Missstände bemerkte, packte sie an. „Ich habe immer versucht, Lücken zu schließen", sagt Ruth Zuther.

1972 wurde sie in den Kreistag gewählt – nahm als erste Frau in der Geschichte der Kreispolitik zwischen 61 Männern Platz. Dieses Privileg habe sie nicht eingeschüchtert, sagt Ruth Zuther. „Ich fand die Sitzungen immer sehr anregend. Die Abgeordneten waren alle sehr zuvorkommend, haben mir immer aus dem Mantel geholfen. Und es war keiner dabei, der mich nicht ernst genommen hätte“, so Ruth Zuther. Mit ihrer energischen Art und ihrer Leidenschaft für soziale und schulpolitische Themen sicherte sich Ruth Zuther schnell einen festen Platz auf der politischen Bühne. Die langjährige Vorsitzende des Kreissozialausschusses war unter anderem Aufsichtsratsvorsitzende der Krankenhaus GmbH, schob die Gründung des Frauenhauses und die Tageseinrichtungen für psychisch kranke Menschen an, initiierte die Bürgerstiftung Hospiz Nordheide und setzte sich für die gezielte Förderung der Menschen mit Handicap ein. „Damals, als ich das Thema aufgegriffen habe, hat sich keiner um sie gekümmert. Für mich war das aber immer wichtig, weil diese Menschen nun mal Hilfe brauchten, und weil ich gesehen habe, was sie alles leisten können, wenn man sie nur vernünftig unterstützt.“

Besonders am Herzen lag ihr auch die Völkerverständigung zwischen Deutschland und Polen. 1972 reiste sie gemeinsam mit 16 Lehrern nach Polen, besuchte in den vergangenen Jahren immer wieder Orte und Stationen aus ihrer Vergangenheit. Mit der Gründung der „Deutsch-Polnischen Gesellschaft“ in Tostedt intensivierte Ruth Zuther die freundschaftlichen Beziehungen zur alten Heimat, organisierte und begleitete zahlreiche Hilfstransporte nach in Lubaczów, versorgte das Krankenhaus mit Gehhilfen und die Musikschule mit Trompeten.

Für ihr Bemühen um die Aussöhnung zwischen Deutschland und Polen erhielt Ruth Zuther 1995 das Bundesverdienstkreuz und 2002 das polnische Verdienstkreuz in Silber. Nach 20 Amtsjahren gab sie kürzlich den Vorsitz an Klaus-Dieter Feindt ab, der ihre Arbeit in ihrem Sinne fortführen will. Und auch im Kreistag ist sie seit 2006 offiziell nicht mehr vertreten. Die altgediente Sozialdemokratin kehrte nach 34 Jahren der Politik den Rücken zu.

Doch mit der Ernennung zum Ehrenmitglied darf Ruth Zuther ab sofort auch ohne offizielles Mandat an allen Sitzungen teilnehmen, ist sogar stimmberechtigt. „Das ist natürlich eine große Ehre und etwas ganz besonderes. Ich habe mich sehr darüber gefreut“, erzählt die Tostedterin. Das sei immerhin ein Zeichen dafür, dass sich ihr politische und privates Engagement gelohnt habe, sagt Ruth Zuther. „Ich glaube, ich habe vieles bewegen können und Menschen zusammengeführt, die sich sonst nie kennen- und schätzen gelernt hätten. Ich hab mein Leben gut ausgefüllt, mich nie gelangweilt und nichts versäumt. Manchmal kann ich es gar nicht so recht glauben, dass ich schon ein so langes Leben hinter mir habe. Jetzt gerade fühle ich mich wie 30.“