War die Adventszeit schön, damals, als ich noch Kind war!

Und wie habe ich den Adventskalender geliebt! Auf dem Deckblatt eine heimelige Winterlandschaft. Mit 23 kleinen Türen und einer großen für den Heiligabend. Jeden Tag ein Türchen öffnen – das war wie eine heilige Handlung. Ich konnte das kaum erwarten. Hinter dem Deckblatt kleine Bildchen. Schaukelpferd, Brummkreisel, eine Christrose. St. Nikolaus am 6. Dezember. Heimlich habe ich Türchen geöffnet, die noch gar nicht dran waren. Ich war neugierig und voller Erwartung. Die große Tür zog mich magisch an. Aber ich blieb standhaft.

Wir hatten zu Hause noch einen zweiten Kalender. Den liebte ich mit meinen 5 Geschwistern auch. Das war eigentlich kein richtiger Adventskalender. Vorne drauf stand „Vorweihnachtskalender“. Er stammte aus dem Krieg. Mit einem Brief an die deutsche Mutter. Mit Liedern wie „Hohe Nacht der klaren Sterne…“, aber keinem Lied aus unserem Gesangbuch. Mit Bastelanleitungen für Weihnachtsgeschenke. Anleitungen, um Panzer, Flugzeuge, Kanonen und Kriegsschiffe mit Buntstiften auszumalen.

Erst Jahre später verstand ich die raffinierte Propaganda der Nazis. Advent und Weihnachten wurden entchristlicht. Aus dem christlichen Fest wurde die „Deutsche Weihnacht“, ein Weihefest der germanischen Rasse und ein Wintersonnenwendefest. Aus der Geburt Christi der Sieg des Lichts und der Sieg über die Feinde im „Großdeutschen Krieg“. Das Hakenkreuz als Weihnachtsbaumschmuck! Statt der Hirten tummelten sich SA-Männer unter den Tannenzweigen. Wenn wir kein christliches Haus gewesen wären, ich wäre auch Jahre nach dem Krieg mit der Nazi-Ideologie infiziert worden.

Tröstlich übrigens, dass das Volk der Deutschen Weihnachten ganz traditionell mit den alten Bräuchen feierte und immun war gegen die dummdreiste Verführung.

Adventskalender sind erst 150 Jahre alt. An Schokolade und Süßigkeiten hinter den Türen war damals nicht zu denken. Die Wochen vor Weihnachten waren die traditionelle Fastenzeit, um sich auf Weihnachten vorzubereiten. Es gab einfache Zählhilfen, etwa 24 Kreidestriche an der Tür.

Jeden Tag wurde einer durchgestrichen. In katholischen Familien und Schulen stellte man eine leere Krippe auf. Waren die Kinder brav, durften sie abends einen Strohhalm hinterlegen. Am Heiligen Abend ruhte das Christkind dann auf den guten Taten der Kinder. Erst dann wurde das Kind in die Krippe gelegt.

Vor 130 Jahren brachte eine schwäbische Mutter zum ersten Mal Süßes in den Kalender. Sie nähte kleine Gebäckstückchen auf einen Karton. Sohn Gerhard durfte jeden Tag eines essen. Das gefiel dem Pastorensohn so, dass er später einen gedruckten Adventskalender herausbrachte. Jeden Tag konnten die Kinder ein Motiv ausschneiden, auf den Kalender kleben und ein Gedicht lesen.

Und bald danach kommt Hamburg ins Spiel. 1902 brachte der Hamburger Verleger eine „Warteuhr für Kinder“ heraus. Er druckte sogar einen Kalender für blinde Kinder. Mit der Schokoladenfirma Stollwerk in Köln entstand der Kalender „Christrose“. Und der war wie heute vielfach mit kleinen Schokoladentafeln gefüllt.

1960 wurde der Kalender in der DDR „umfunktioniert“. Da tauchte dann ganz unchristlich „Väterchen Frost“ auf, importiert aus Russland.

Kein St. Nikolaus, keine Heilige Familie, kein Engel, kein „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden…“. Engel wurden zu „geflügelten Jahresendfiguren“. Die Weihnachtsbögen und Krippenfiguren aus dem Erzgebirge durften allerdings weiterhin produziert werden, das diente der Devisenbeschaffung. Aber die Menschen in der DDR gingen der Partei nicht auf den Leim. Sie feierten Advent und Weihnachten wie eh und je.

„Der Adventskalender hat in den letzten 10-15 Jahren eine Renaissance erlebt“, wird ein Manager zitiert. 2011 wurden 62 Millionen Schokoladenkalender verkauft! Wohlstand im Überfluss. Heute gibt es Adventskalender in schier unendlichen Variationen. Es gibt Spielwarenkalender von Lego und Playmobil, Kalender für Hunde und Katzen. Und für „Große“ Produkte mit teurem Parfum und Schmuck gefüllt.

Aber es gibt auch die Erfolgsgeschichte des Kalenders vom Ökumenischen Verein „Andere Zeiten“. Seit 20 Jahren lädt der Kalender ein, die Adventszeit in einem anderen Licht zu sehen. Seine Botschaft erzählt von Sehnsüchten, neuen Perspektiven und einem erfüllten Leben. Gestaltet mit Geschichten, Gedichten und Bildern zum Nachdenken und Meditieren.

Immer mehr Menschen nehmen sich Zeit für Entschleunigung in einer oft turbulenten Jahreszeit. Die Auflage liegt bei über 550.000! Eine Gegenbewegung zu Oberflächlichkeit und Atemlosigkeit. Ein schönes Beispiel, wie die alten heilsamen Gedanken der Fastenzeit als Einkehr- und Besinnungszeit in moderner Form aufgenommen und weiterentwickelt werden.

Meine Frau und ich kehren mit dem morgendlichen Lesen und Betrachten der Bilder dieses Kalenders in unsere Kindheit und zu den unvergessenen Adventskalendern zurück. Mit Freude.

Helge Adolphsen ist emeritierter Hauptpastor des Hamburger Michel. Er lebt mit seiner Familie in Hausbruch. Seine Kolumne erscheint zweiwöchentlich sonnabends in der Regionalausgabe Harburg & Umland des Hamburger Abendblattes