Eine Freundin erzählte mir, dass die Vorweihnachtszeit für sie die schönste Zeit im Jahr sei.

Eine Zeit der Vorfreude und der Besinnlichkeit. Auf ihrem Schreibtisch im Büro lässt sie immer eine Kerze brennen. Nur eine. Sie erlebt in den noch dunklen Morgenstunden und in den Abendstunden, dass das Leuchten und die Wärme der einen Kerze den ganzen Raum erfüllt. Das sei wie eine tägliche leise Einladung, alles Grelle, Laute und Hektische zu besänftigen. „Das tut mir so gut“, sagt sie, „und macht mich wunderbar lebendig. Die Kerze steigert meine Lebensfreude.“

Morgen, am 1. Advent, entzünden wir an unseren Adventskränzen die erste Kerze. Hoffentlich nur eine. Manche lassen gleich alle vier brennen. Die bringen sich um eine wesentliche Erfahrung. Alles Schöne und Wichtige im Leben braucht Zeit und will langsam in uns wachsen. In dem Licht der Kerze verstecken sich Geduld, Hoffnung, Vertrauen, Liebe. Man muss doch nicht alles sofort und auf einmal haben!

Der Erfinder des Adventskranzes hat das verstanden, Johann Hinrich Wichern, der Pastor und Vorsteher des Rauhen Hauses in Hamburg-Horn. 1833 hat er das Haus für sozial gefährdete Kinder und Jugendliche aus den Hamburger Elendsvierteln gegründet. In der Adventszeit versammelten sich die Kinder mit ihren Betreuern mittags zu einer kurzen Andacht und abends zu einer Singstunde. Sie sangen die schönen Advents-Choräle, übten die Weihnachtslieder und hörten die biblischen Verheißungen. Im Advent 1839 fragten die Kinder voller Ungeduld wie alle Kinder heute: „Wann ist endlich Weihnachten?“ Wichern machte die Vorfreude zu einem Erlebnis. Er ließ ein hölzernes Rad aufhängen. Das hatte 23 Kerzen, 19 kleine rote für die Werktage, 4 dicke weiße für die Adventssonntage.

Der erste Adventskranz in Deutschland war also ein schlichter runder Holzleuchter. Die runde Form spiegelt den Kreislauf des Jahres wider. Sie ist auch ein Symbol für den Erdkreis. Für Wichern war das Rad in christlicher Tradition ein Hinweis auf die Ewigkeit, die keinen Anfang und kein Ende hat. Beim schlichten Holzkranz blieb es nicht. 1851 wurde er mit duftendem Tannengrün bestückt. Der grüne Kranz ist in vielen Kulturen und in der christlichen Religion ein Siegeszeichen. In der christlichen Tradition wird er als Siegeszeichen des Lebens verstanden, des Lebens, das stärker ist als der Tod – Erinnerung an Ostern und die Auferstehung Jesu. Das Grün der Tanne ist die Farbe der Hoffnung und der Lebenskraft. Die Lichter auf dem Kranz sind ein Hinweis auf die Hoffnung und das Licht, das mit Christus in die Welt kam. Wichern schreibt in seinem Tagebuch: „An dem Kronleuchter des Betsaals mehrt sich täglich die Zahl der Lichter, die der Zahl der Adventstage entsprechen, bis zum Schluss des Advents die ganze Lichterkrone strahlt und immer heller widerstrahlt in den Herzen der Kinder.“

Erst nach dem Ersten Weltkrieg ist der Adventskranz populär geworden. Heute wetteifern Städte mit Riesenkränzen um einen Eintrag ins Guinnessbuch der Rekorde. In Kaufbeuren ist man auch auf Rekordjagd. Der Kranz dort hat einen Durchmesser von 8 m. Die Wachskerzen sind 1,50 m hoch. Er wiegt 3 Zentner.

Bescheidener und angemessener geht es in Hamburg zu. Seit einigen Jahren übergibt der Vorsteher des Rauhen Hauses den Wichern-Kranz dem Senat am 1. Advent im Rathaus. Im Michel hängt er in der Mitte des Kirchenschiffes. Jeden Tag wird eine Kerze entzündet. Das Licht der Kerzen weckt und stärkt die Hoffnung bei allen, bei Großen und Kleinen. Und die Sehnsucht nach Geborgenheit, nach Zuwendung und menschlicher Wärme. Nicht nur im Advent. Licht ist Leben. Ein Schutz gegen die Angst.

Vor einigen Jahren rief mich unser damaliger Organist aus dem Krankenhaus an. Er hatte Krebs und lag im 8. Stock des Krankenhauses St. Georg. Er konnte nachts nicht schlafen. Nach und nach gehen in Hamburg nachts die Lichter in und an den Häusern aus. Er erzählte, dass um 02.00 Uhr das letzte Licht im Polizeipräsidium erlischt. Dann sei die Nacht stockdunkel und finster. Er hatte Angst und konnte die Finsternis nicht ertragen. Er bat mich, das Licht ganz oben im Turm des Michels leuchten zu lassen. Dann war er beruhigt. Gern kam ich seiner Bitte nach. Es hagelte Anrufe von empörten Hamburgern: „Energieverschwendung!“ Ich erzählte ihnen, dass wir das für unseren kranken Organisten tun. Daraufhin spendeten einige Geld für das nächtliche Licht. Seitdem leuchtet dieses eine Licht jede Nacht. Für alle, die nicht schlafen können, Angst haben, krank oder einsam sind. Das ganze Jahr hindurch. Immer adventlich.