Morgen ist Volkstrauertag.

Gedenktag für die Toten beider Weltkriege. Für die Ehemänner und Söhne. Für die Jüngeren sind die nun schon Großväter und Urgroßväter. Die Filme und Berichte über die Toten des Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren machen immer noch fassungslos.

Am Volkstrauertag müssen wir auch über die deutsche Schuld und die Ermordung der Juden in den KZ’s reden. Wir müssen uns erinnern. „Erinnerung heißt das Geheimnis der Erlösung“, sagt ein Wort aus der jüdischen Tradition. Wir haben das weiter zu beherzigen.

Im letzten Jahr habe ich am Volkstrauertag die Rede auf dem Harburger Friedhof am Ehrenmal gehalten. Ganz im Gedenken an die Toten und Opfer der Kriege. In diesem Jahr würde ich ein anderes Thema wählen. Ich würde über andere Opfer sprechen. Über die Kriegskinder, die zwischen 1930 und 1945 geboren wurden. Sie sind heute so alt wie viele der heutigen Teilnehmer an den traditionellen Gedenkfeiern.

Auf diesen Gedanken hat mich das Buch der Journalistin Sabine Bode gebracht. Ein SPIEGEL-Bestseller: „Die vergessene Generation – die Kriegskinder brechen ihr Schweigen“. Die Ergebnisse ihrer jahrelangen Beschäftigung mit diesem Thema, die vielen Interviews mit Kriegskindern und wissenschaftliche Studien fördern weithin Unbekanntes und Erstaunliches zu Tage. In den Gesprächen erlebte die Autorin zunächst viel Abwehr. Eine Frau sagte: „Sie wollen mir wohl ein Trauma anhängen!“ Viele relativierten ihre schrecklichen Erfahrungen auf der Flucht und in den Bombennächten: „Das war doch damals normal!“

„Wir haben auch viel Schönes erlebt.“ Die Gefühle der Betroffenen waren blockiert. Was wirklich in ihnen vorging, war unter Scham und Schuld verborgen. Ihre ganz persönlichen schrecklichen Erfahrungen haben sie verdrängt. Diese „vergessene Generation“ war in der NS-Zeit zu Härte, Stärke und Ordnung erzogen worden. Die Väter wurden vor zu viel Zärtlichkeit gewarnt, die Mütter vor allzu heftigen mütterlichen Gefühlen Solche Art der Liebe galt als Affenliebe. Die Kinder, die so erzogen wurden, mussten ihre Ängste und Nöte verdrängen.

Im Nachwort des Buches untersucht die anerkannte Traumaforscherin Luise Reddemann die Spätfolgen dieser Erziehung. Sie findet Erklärungen für das Verdrängen der Gefühle und das jahrzehntelange Schweigen. Sie diagnostiziert bei vielen die Spätfolgen als posttraumatische Belastungsstörung. Viele der heute Älteren seien verunsichert. Ihre Kontakte zur Kontaktwelt der Jüngeren seien eingeschränkt. Ihre Beziehungen seien gefühlsgestört. Sie sind stressanfällig und haben ein starkes Bedürfnis nach Sicherheit. Sie leiden unter psychosomatischen Störungen, Depressionen und Panikattacken. Ich erlebe das bei meiner Schwiegermutter. Wenn Sirenen heulen oder Silvester Feuerwerkskörper abgebrannt werden, dann schreckt sie auf und spricht von Tieffliegern, die sie auf der Flucht erlebt hat. Lange hatten die Ärzte die Symptome bei den Kriegskindern mit der Phantasiediagnose „vegetative Dystonie“ belegt. Die Ärzte wussten zu wenig vom Unterbewusstsein und von posttraumatischen Störungen.

Noch 2002 gab es eine heftige auch internationale Diskussion, als Günter Grass in seiner Novelle „Krebsgang“ über die deutschen Opfer von Krieg und von Vertreibung schrieb. Niemals hätte man über so viel Leid schweigen dürfen, nur weil die deutsche Schuld übermächtig und Scham und Reue angesichts des verbrecherischen Krieges und des Holocaust vordringlich waren, formulierte er zugespitzt.

Jetzt brechen die Kriegskinder ihr Schweigen. Eine Freundin hat sich in dem Buch „Wo sind meine Schuhe?“ die schrecklichen Fluchterfahrungen und die jahrzehntelangen Belastungen und psychosomatischen Störungen von der Seele geschrieben. Nun schreiben auch andere ihre eigenen Kriegserfahrungen auf. Sie müssen es einfach.

Es muss heraus. Sie sprechen nicht nur über Kriegserinnerungen, sondern über die Kriegsfolgen. „Erinnerung heißt das Geheimnis der Erlösung“. Seit 2005 sind die Spätfolgen bei den Kriegskindern ein Thema in unserer Gesellschaft. Die Autorin des Buches schreibt zu Recht, dass das, was da aufgebrochen ist, nicht mehr aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwinden wird. Die Betroffenen werden mit ihren belastenden Erfahrungen und Gefühlen endlich nicht mehr allein gelassen werden.

„Erinnern heißt das Geheimnis der Erinnerung“. Trauern um die Toten und alle Opfer der Kriege braucht einen langen Atem und viel Zeit. Die Arbeit an den dunklen Schatten und an all dem, was sprachlos Angst macht, diese Arbeit ist die schwerste Arbeit der Seele. Darüber zu sprechen befreit.

So wollen wir von Schuld und Scham angesichts der Verbrechen der Täter offen reden. Ebenso wollen wir über alle Opfer des Krieges und der Gewalt trauern. Und endlich auch die Kriegskinder mit ihren traumatischen Erfahrungen und seelischen Belastungen ernst nehmen.

Helge Adophsen ist emeritierter Hauptpastor der Hamburger Michaeliskirche. Für das Abendblatt schreibt er alle zwei Wochen seine Einschätzung des Alltagsgeschehens auf. Er lebt mit seiner Familie in Hausbruch