Am 8. November 1989 ahnten die Menschen in Rüterberg an der Elbe nicht, was in Berlin passierte. Das Dorf war doppelt eingezäunt

Rüterberg. Der erste Griff ging in die Tasche: Pass dabei? Ein Automatismus nach dem Schritt vor die Haustür. Wenn er Besuch einlud, ging sein Blick in den Kalender: Pläne für Sonntag in sechs Wochen. Wenn er in die nächste Kleinstadt radeln wollte, ging sein Weg durch ein bewachtes Tor. Meinhard Schmechel hat mehr als 20 Jahre lang in einem Käfig gelebt.

Rüterberg an der Elbe, ungefähr in der Mitte zwischen Hamburg und Magdeburg. Das Dorf liegt auf der östlichen Seite des Flusses, hoch oben auf einem Elbhang. Das Dorf hat sich zur eigenen Republik ausgerufen: zur Dorfrepublik Rüterberg. Am 8. November 1989.

Meinhard Schmechel ist 67 Jahre alt, hat einen gemütlichen Bauch und ist nicht der Typ für große Worte. Eher für Taten. Als die Elbe 2002 sein Dorf zu überschwemmen drohte, ließ er eine Firma einen Deich bauen. Ohne Genehmigung vom Land. Einfach nur, weil er sich im Recht sah.

Und weil er keine Angst vor Konsequenzen hatte. Da spricht ein Minister neun Monate mit ihm, dem Bürgermeister von Rüterberg am Rand des Bundeslandes, nicht? Es mag wenig geben, das diesem Mann weniger wichtig ist.

Als Meinhard Schmechel auf die Welt kommt, fließt das andere Deutschland vor seiner Haustür entlang. Seit dem 1. Juli 1945 lief die Grenze zwischen westlicher und sowjetischer Besatzungszone in der Elbe, sieben Jahre später lag Rüterberg wie Dutzende andere Dörfer innerhalb der Sperrzone. Als einziges aber mit zwei Zäunen drumherum.

„Das Vieh bölkte. Wer nicht dran war, der versteckte sich.“

Das „Gesetz über die Einführung einer besonderen Ordnung an der Demarkationslinie“ war am 26. Mai 1952 in Kraft getreten. Die Ordnung bestand aus Zäunen, Gräben, Toren, Wachtürmen, Beobachtungsbunkern, Minengürteln, Hundepatrouillen, Lichttrassen und Selbstschussanlagen. Fünf Kilometer breit war die Sperrzone, 500 Meter der Schutzstreifen.

„Aktion Ungeziefer“ nannten es die Behörden 1952, „Aktion Kornblume“ 1961, wenn sie den Bewohnern der Häuser im Schutzstreifen 48 Stunden Zeit gaben, ihre Sachen zu packen.Die Laster kamen morgens um 6. Niemand wusste, zu wem, und niemand wusste, warum. „Das Vieh bölkte, es hatte ja jeder Milchkühe. Wer nicht dran war, versteckte sich.“ Meinhard Schmechel will nicht wirklich wissen, wonach das damals ging, wer bleiben durfte und wer nicht. „Mehr als zehn Hektar Land“, „in der Kirche“, das sind Fetzen, die er gehört hat.

Rüterberg ist eins von mindestens einem Dutzend Dörfern, in denen Menschen entlang der Grenze zwangsausgesiedelt wurden. Einige flohen in den Westen, andere bekamen neue Wohnorte zugewiesen. Wer damals weg musste aus Rüterberg, kam nie wieder. Auch nach der Wende nicht.

1966 kommt es zu einem Konflikt zwischen Bundesrepublik respektive britischen Streitkräften und DDR, die Konfrontation auf dem Wasser ist bewaffnet. Die Regierung riegelt das Dorf daraufhin ab. Baut zusätzlich zum Zaun am Ufer einen zweiten, elektrischen einmal um den Ort herum.

„Wer Besuch bekam, musste den Kilometer vom Dorf bis zur Straße gehen, um die Leute am Zauntor abzuholen“, erzählt der ehemalige Bürgermeister. Und wer zur Arbeit wollte, musste jeden Morgen erst zum Tor laufen, seinen Pass vorzuzeigen und dann in den Bus steigen, zum Sägewerk, zur Ziegelei oder zur Klinkerfabrik.

Als Meinhard Schmechel seine Hochzeit 1968 um eine Woche verschieben muss, weil die Älteste früher kam als geplant, hieß das für seine Eltern: Sie können nicht dabei sein. Weil es sechs Wochen dauerte, bis Gäste einen Passierschein bekamen. Cousins durften ohnehin nicht kommen – nur Verwandte ersten Grades war es gestattet, die Familie im Käfig an der Elbe zu besuchen. „Selbst zur Jugendweihe wussten wir bis zwei Tage vorher nicht, ob wir Besuch bekommen oder nicht.“

Wenn jemand krank war im Dorf, wenn es einen Notfall gab zur falschen Uhrzeit, dann musste erst der Grenzer angerufen werden – und danach der Arzt. Zwischen 23 Uhr und 5 Uhr waren die Schotten dicht. Komplett. Selbst als es brannte in der Ziegelei, kam die Feuerwehr nicht durch. So gut eingezäunt war das Dorf.

Als die Bewohner im Herbst 1989 den Antrag stellen, wenigstens ins Nachbarstädtchen Dömitz ohne Passkontrolle radeln zu dürfen und das Regime das ablehnt, wird es einem von ihnen zu eng: Schneidermeister Hans Rasenberger ruft zur Revolte.

Der Revoluzzer ist heute tot, Meinhard Schmechel war dabei, damals bei der Dorfversammlung. Der Schneider stand auf und sagte: Wir müssen uns wehren. Wir gründen eine Dorfrepublik nach Vorbild der Schweizer Urkantone. Ein Symbol zwar nur, mehr geht nicht, aber immerhin. 100 von 140 Rüterbergern sind einverstanden. Sie haben die Schnauze voll, wollen sich den Käfig nicht mehr bieten lassen, sind aggressiv. Sie stimmen für die Dorfrepublik. Ohne zu wissen, was in der Nacht noch passieren würde. Es war der 8. November 1989. Nelson Mandela schickte einen Brief mit Lob für Mut und Freiheitskampf an die Elbe, erzählt Meinhard Schmechel. Noch heute steht „Dorfrepublik“ über dem gelben Ortsschild, die Urkunde von damals hängt im Heimatmuseum im Stockwerk über dem leeren Gasthaus.

Der Ort wächst wieder, junge Familien bauen sich ihre Häuser an diesem schönen Fleck. 450 Einwohner in den Fünfziger Jahren, 145 bei der Wende, 200 heute: Dafür hat Meinhard Schmechel gesorgt, hat Baugebiete ausgewiesen und günstiges Land verkauft.

Nur das Geschäft mit den Ferienwohnungen läuft nicht so gut. Ein Geschäftsmann aus dem Westen hatte nach der Wende die Idee, den ausgedienten Grenzturm für Urlauber umzubauen. Doch Meinhard Schmechel hat da noch nie jemanden Ferien machen gesehen.