Waheed Alsaker entging dem Tod auf seiner langen Reise von Syrien nach Europa. Die Geschichte einer Flucht in den Landkreis Harburg

Tostedt. Fünf Stunden sitzt Waheed Alsaker schon im Flüchtlingsboot. Die Schleuser sollen ihn nach Europa bringen. Dann passiert das, was eigentlich nicht passieren darf: Der Motor streikt. Entsetzen macht sich breit. Jeder der 250 Flüchtlinge im Boot hat viel Geld bezahlt, um in diesem kleinen Kutter zu sitzen. Die Menschen riskieren ihr Leben, um sich aus den Trümmern in Syrien nach Europa zu retten.

Nach dem UN-Flüchtlingshilfswerk stieg die Zahl der Asylanträge in den Industriestaaten zwischen Anfang Januar und Ende Juni 2014 um 24 Prozent gegenüber dem Vorjahr. In Deutschland haben fast 100.000 Menschen von Januar bis Juli Asylanträge gestellt. Die meisten dieser Anträge stammen von syrischen Flüchtlingen.

Waheed Alsaker fröstelt, als er von seiner Flucht erzählt. Er sitzt auf dem Gartenstuhl vor der Flüchtlingsunterkunft am Helferichheim in Tostedt und zieht die Schultern hoch. Auch nach sechs Monaten in Deutschland hat sich der schmale Mann mit der randlosen Brille nicht an die nebligen, kühlen Morgenstunden gewöhnt. Auf dem Gartentisch vor ihm steht ein kleines, dampfendes Glas Mate-Tee.

Den südamerikanischen Tee hat er auch immer in Syrien getrunken. Er schmeckt ein bisschen wie Heimat. Bis Anfang 2011 führte der 27-Jährige in Damaskus ein ziemlich sorgloses Leben. Er studierte Betriebswirtschaftslehre im vierten Jahr. Sein Vater betrieb ein kleines Schneidergeschäft im Vorort von Damaskus. Seine Familie gehörte dem Mittelstand an. „Sie war weder arm noch reich“, sagt er.

Im Frühjahr 2011 regt sich der Widerstand gegen das autoritäre Assad-Regime. Auch Waheed Alsaker beteiligt sich an den Massenprotesten für Freiheit und Reformen. Jeden Freitag geht er auf die Straße. Später sogar drei bis vier Mal pro Woche. Die Demonstration ist seine einzige Waffe. Er muss sich daran gewöhnen, ständig von der Polizei verfolgt zu werden. Mehrere seiner Freunde werden verhaftet. Nahezu 20 Mal versucht die Polizei, Waheed Alsaker in Gewahrsam zu nehmen. Es gelingt ihm, immer wieder zu entwischen.

Am Ende wird ihm seine Hilfsbereitschaft zum Verhängnis. Er hilft einem Soldaten, unterzutauchen. Der Mann hatte es satt, Menschen zu töten. Das Regime schlägt mit Gewalt zurück. Im Juli 2011 holt die Polizei die gesamte Familie von Waheed Alsaker um vier Uhr morgens aus dem Bett und verhaftet ihn, seinen Vater, seinen Bruder und seinen Cousin. Tief unter der Erde wird Waheed Alsaker gefangen gehalten. Er muss sich mit 70 Menschen einen 20 Quadratmeter großen Raum teilen. Ständig wird er mit dem Tod konfrontiert. Auf dem Toilettenboden, in der Küche und im Flur stapeln sich die Leichen der Gefängnisinsassen. Noch heute lässt sich an der tiefen Narbe seines Schienbeins ablesen, welchen Folterterror er in diesen Tagen erleiden muss. Seinen Vater halten die Beamten drei Tage lang im Gefängnis fest. Erst nach 62 Tagen wird Waheed Alsaker entlassen. Was aus dem Soldaten geworden ist, weiß er nicht. „Ich denke, er ist tot“, sagt er.

Im Dezember 2012 verlässt er Syrien in der Hoffnung auf ein anderes, besseres Leben jenseits der Grenzen. Sein Bruder und ein Freund begleiten ihn. Doch in Beirut halten die Männer es nur 20 Tage aus. Denn als gesuchter Gegner des syrischen Regimes muss Waheed Alsaker jederzeit damit rechnen, dass die Hisbollah, die eine enge Verbindung zum Assad-Regime pflegt, ihm auf die Spur kommt.

Nächste Station: Ägypten. Mit dem Flugzeug geht es nach Kairo. Von dort bringt ein Schleuser Waheed Alsaker für 400 Doller nach Libyen. Zwölf Stunden lang durchquert er mit 30 Flüchtlingen in einem Geländewagen die Sahara. Jeder bekommt etwas Wasser und ein kleines Stück Käse. Natürlich reicht die Ration nicht. Doch Waheed Alsaker sagt: „Besser als nichts.“

Auch Libyen ist nur eine Zwischenstation. Ein Jahr lang arbeitet Waheed Alsaker im Mobilfunkladen. Er will Geld verdienen, um die Schleuser bezahlen zu können, die ihn und seine Verwandten nach Europa bringen sollen. Inzwischen sind es Waheed Alsaker, sein Bruder und zwei Freunde, die gemeinsam fliehen wollen. Waheed Alsaker weiß, wie gefährlich die Durchquerung des Mittelmeers ist. Er hat von den Bootsunglücken gehört, den vielen Toten. „Ich habe immer gesagt, ich habe das Gefängnis überlebt. Also überlebe ich auch das“, sagt er. Am 10. April 2014 steigt er kurz nach Mitternacht in einen kleinen Kutter. Er ist nur etwa zwölf Meter lang. Das Ziel: Italien. Waheed Alsaker sagt, dass etwa 250 Menschen im Boot sitzen. Jeder hat 20 Zentimeter Platz, schätzt er.

Als der Motor streikt, droht das Ende. Doch die Flüchtlinge haben Glück. Ein Mechaniker ist an Bord. Er repariert den Motor. Alle drei Stunden muss er das tun. Nach 18 Stunden nähert sich ein großes Schiff der italienischen Marine. Sobald die Marine die Flüchtlinge an Bord gezogen hat, sickert Wasser ins Boot. Waheed Alsaker und die anderen Flüchtlinge sehen zu, wie ihr Kutter sinkt. Es dauert nur wenige Minuten. Dann ist es weg.

Als Waheed Alsaker seine Geschichte erzählt, raucht er viel. Immer wieder streicht er mit Daumen und Zeigefinger über das Teeglas. Von oben nach unten. Ganz langsam. Dann lacht er, als wollte er die Momente der Verzweiflung beiseite schieben – weglachen. An Bord des Marineschiffes bekommen Waheed Alsaker und die anderen Flüchtlinge Medikamente, zu essen und zu trinken. „Alles haben wir bekommen“, sagt Waheed Alsaker. „Wir waren sehr froh und glücklich.“

In Sizilien gehen sie an Land und werden sie mit dem Flugzeug nach Rom gebracht. Die Fingerabdrücke lässt sich Waheed Alsaker nicht nehmen. Er weiß, dass nicht registrierte Flüchtlinge nicht wieder nach Italien zurückgeschickt werden können. Er will nach Deutschland. „Ich wollte schon immer da hin“, sagt er. Seine Schwester lebt in München. Er spricht etwas Deutsch. Schon vor Kriegsausbruch in Syrien hat er zwei Mal einen Visumsantrag bei der deutschen Botschaft in Damaskus gestellt. Und er weiß, in Deutschland geht es ihm als Flüchtling besser als in Italien.

Nach Hamburg und Friedland kommt er in die Flüchtlingsunterkunft am Helferichheim in Tostedt. Dass er fließend Englisch spricht und auch die deutsche Sprache etwas beherrscht, spricht sich schnell herum. Im ersten Internationalen Café, zu dem eine Gruppe von Tostedtern die Flüchtlinge ins Gemeindehaus der evangelischen Johannesgemeinde geladen hatte, rufen die Syrer immer nach Waheed, wenn sie den Tostedtern etwas erklären möchten. Waheed Alsaker übersetzt vom Arabischen ins Deutsche, vom Deutschen ins Arabische. Und wenn er damit nicht weiterkommt, versucht er es auf Englisch.

Er knüpft schnell Kontakte zu einigen Tostedtern. „Ich habe viele Freunde hier“, sagt er. „Alle sind sehr nett.“ Sie bringen ihm Kinderbücher, damit er die deutsche Sprache lernt. Nur wenige Wochen später begleitet er andere Flüchtlinge zu Gesprächen mit Anwälten und übersetzt.

Manchmal träumt er von Damaskus und dass er unter seinen Freunden ist. Von vielen hat er monatelang nichts mehr gehört. Aber er weiß, er kann nicht zurück. Statt dessen tut er alles, um an seinem Deutsch zu feilen. Morgens sitzt er draußen am Gartentisch vor der Flüchtlingsunterkunft und übt. Abends schickt er dem Leiter der Flüchtlingsunterkunft Thomas Qualmann E-Mails mit belanglosem Inhalt, irgendetwas, obwohl er den Heimleiter auch persönlich sprechen könnte. Er sitzt ja jeden Tag im Büro. Aber Waheed Alsaker will die deutsche Sprache auch schriftlich beherrschen.

Sein Traum ist, eines Tages BWL studieren zu können. Es wird noch dauern, bis er ihn verwirklichen kann. Aber ein erstes Erfolgserlebnis hat er schon: Er hat die Aufenthaltserlaubnis bekommen, die offizielle Anerkennung als Flüchtling. Ein entscheidendes Papier. Und er hat endlich eine eigene Wohnung in Harburg gefunden. „Es war schwer“, sagt er. Bald zieht er mit seinem Bruder und einem Freund ein. Das bessere Leben – es kann beginnen.