Profilklasse „On Stage“ der Goethe-Stadtteilschule steht für „Loifior“ in den alten Phoenix-Hallen vor der Kamera

Harburg. Die Halle ist 100 Meter lang und 20 Meter breit. Durch staubige Sprossenfenster fällt das Licht in den Raum. In regelmäßigen Abständen stützen mächtige Pfeiler die Decke, denn hierüber liegt noch so eine Halle, und hierunter zwei. Seit mindestens 15 Jahren wird hier nicht mehr mit Gummi gearbeitet, und doch riecht man es noch in jeder Steinritze – trotz der weißen Farbe, die die Wände nach der Stilllegung noch einmal erhielten.

Normalerweise herrscht hier Grabesstille, aber heute nicht: 22 Dreizehnjährige flitzen hin und her. Die Instrumente für eine Band sind aufgebaut. Gleich mehrere Jugendliche entlocken dem Schlagzeug Lärm. Dazwischen ertönt aus einer anderen Ecke der Halle in regelmäßigen Abständen der Ruf: „Uuuuund bitte!“ gefolgt von einer Pause und „Danke!“. In den alten Phoenix-Hallen auf dem Gelände der Contitec Harburg wird ein Musikvideo gedreht – und die jüngste Profilklasse „On Stage“ der Goethe-Stadtteilschule Harburg mischt kräftig mit. Immerhin ist Projektwoche.

Es ist der letzte Drehtag und Samirah weiß eines: „Ich werde in meinem Leben nicht wieder so einen Strampelanzug anziehen“, sagt sie. „Das ist voll warm da drin“. Samirah gehörte zu dem Dutzend Schülern, das in so genannten „Morphsuits“ vor der Kamera agierte – eng anliegenden Ganzkörpertrikots, die auch das Gesicht komplett einhüllen und aus jedem Träger ein formloses Wesen machen. Der Effekt ist gewollt: In dem Song „Psychonaut" der Lüneburger Indie-Rock-Gruppe Loifior geht es um Entscheidungsfindung und Charakterbildung „Die gesichtslosen Wesen stehen für die Zweifel und Ängste die einen manchmal gefangen halten“, sagt Produzent Marco Antonio Reyes Loredo, „und im Video zerren sie an der Band.“

Es ist bereits das zweite Video, das Reyes Loredo und sein Team in dieser Woche mit der Klasse drehen. „Normalerweise dauert Filmen ja viel länger und es gibt unheimlich viel Leerlauf für die meisten Beteiligten, während einige wenige arbeiten, aber das kann man mit 13-Jährigen nicht machen“, sagt der Produzent.

Also erhöht das Team die Schlagzahl: Paul Spengler und Aaron Krause, die sich an Regie und Kamera abwechseln, improvisieren mit dem, was der riesige Raum an Kulisse bietet und hören sich auch gern Ideen der Schüler an. Aufwendige Umbauten gibt es nicht dank moderner Technik: LED-Scheinwerfer funktionieren mit Batterien, sind leicht und werden nicht heiß. Schüler können sie halten und schwenken, ohne dass man Kabel ziehen oder Stative versetzen muss. Auch die Kamera kommt ohne Stativ aus: Spengler und Krause filmen von der Schulter. So kann man innerhalb von Sekunden ein ganzes Set verlegen.

Beim ersten Video, einem Song der Hamburger Band „The Box“, filmten die Profis gar nicht selbst: Sie ließen die Schüler drehen, mit allem, was diese hatten: Smartphones und elterliche Videokameras. Das Set war der alte Harburger Friedhof. „Wir mussten 22 verschiedene Formate, Qualitäten und Bildwiederholungsraten zusammenschneiden“, sagt Produzent Reyes Loredo. „Das war eine Herausforderung, bei der auch wir noch Neues gelernt haben.“

Das Team aus Reyes Loredo, Spengler, Krause, Cutter Jonathan Rieck und weiteren Kreativen nennt sich „Hirn und Wanst“. Die Wilhelmsburger Produktionsfirma machte durch den Dokumentarfilm „Die wilde 13“ und die mehrfach Grimme-nominierte Reihe „Konspirative Küchenkonzerte“ auf sich aufmerksam. Auf die siebte Klasse der Goethe-Schule kam „Hirn und Wanst“ über ein Förderprojekt: Unter dem Motto „Kultur macht stark“ finanziert der Bund Medienprojekte in sozialen Brennpunkten – und Harburg gilt als einer. Die Bands kamen über den „Rock City e.V,“, der wiederum eng mit der „Deutschen Pop-Akademie“ zusammenarbeitet. Damit war eines der Förderungskriterien, die Zusammenarbeit mit einer bundesweiten Institution, gegeben. Mit Wolf Gölz, dem Klassenlehrer der „On Stage“-Profilklasse, hatte er schnell einen weiteren Ansprechpartner. Im Profil „On Stage“ beschäftigen sich die Schüler mit den verschiedentsen Formen der Kulturpräsentation. Auf den Videodreh, kommt für die Siebtklässler als nächstes eine Einheit Darstellendes Spiel, inklusive prominenter Einführung in die Tschechow-Methode; dann ein Tanzprojekt gemeinsam mit Kampnagel und so geht es weiter bis zur zehnten Klasse. Zwei ältere Jahrgänge arbeiten sich schon durch das spannende Programm. „Ich hatte in diesem Jahr 100 Bewerber für dieses Profil“, sagt Klassenlehrer Gölz.

Aus der Video-Projektwoche haben die Schüler noch eine Menge mehr mitgenommen, als die Abneigung gegen Morphsuits. „Wenn ich jetzt Musikvideos sehe, frage ich mich immer, wie lange die daran wohl gedreht haben“, sagt Schüler Jan.

In diesem Moment fängt Aaron Krause hinten am Set an, Beifall zu klatschen. Schnell breitet sich die Welle des Applauses in der ganzen Halle aus: Die letzte Szene ist abgedreht. Schüler und Filmprofis bauen ab und räumen auf. Morgen herrscht hier wieder Stille – und ein Hauch von Gummi-Aroma zieht durch die Halle.