In Lüneburg gibt es noch viele eigentümegeführte Geschäfte – auch Dank einer klugen Ansiedlungspolitik der Stadt

Lüneburg. Es gibt einen Laden für vor Ort geschöpfte Pralinen und einen für handgemachte Brillen, Geschäfte für Spielsachen und Bastelbedarf, für Dessous und Erotik, für Belletristik und Kaffeebohnen. Lüneburg darf sich mit so vielen inhabergeführten regionalen Geschäften schmücken wie nur wenig vergleichbare Städte. Das liegt nicht nur an den schmucken historischen Häusern, sondern auch an den Menschen, die darin wohnen und arbeiten.

„Wie der Einzelhandel in Innenstädten überlebt“ lautete das Thema eines Gesprächsabends an der Leuphana Universität, zu dem sich Wissenschaft und Praxis im Hörsaal 1 getroffen hat.

Auf den weißen Lacktischen vor den weißen Clubsesseln stehen Blumentöpfe mit Heide, abwechselnd in klassischem Lila und zeitgenössischem Weiß. Auf dem Leder sitzen Leute wie Prof. Dr. Daniel Lang als Dekan der Fakultät Nachhaltigkeit an der Leuphana, Dr. Susanne Eichholz-Klein vom Kölner Institut für Handelsforschung, Heiko Meyer als Betreiber eines lokalen Coffeeshops und Vorsitzender des Verbands Lüneburger Einzelhändler und Gastronomen sowie Jan Orthey, Inhaber der größten unabhängigen Lüneburger Buchhandlung und Gründungsmitglied des bundesweiten Netzwerks „Buy Local“.

Prof. Lang leitet ein Forschungsprojekt der Universität, das der sogenannte Innovations-Inkubator finanziert: Ein Konstrukt der Europäischen Union, das die Verknüpfung von Wirtschaft und Wissenschaft zur Stärkung der Region vorantreiben soll. Lang und seinen Leuten geht es vor allem um nachhaltige Netzwerke – und wie sie den regionalen, inhabergeführten Einzelhandel stärken können. „Der Einzelhandel ist das Scharnier zwischen Produzent und Konsument“, sagt der Professor. „Denn diese Verbindung ist verloren gegangen.“ Geschäfte stiften außerdem Identität und sorgen für soziale Kontakte, sagt Lang. In Lüneburg funktioniere das vorbildlich. „Am verkaufsoffenen Sonntag traue ich mich selbst kaum noch in die Stadt, weil so viele Menschen hineinströmen, die fasziniert sind von ihrer Ausstrahlung.“

1300 Baudenkmäler zählt die im Zweiten Weltkrieg unzerstört gebliebene historische Innenstadt, und dafür, dass keine blinkende Reklame den Reiz der Fassaden trübt, sorgt eine strenge Satzung der Stadt. „Die hat zwar den Nachteil, dass wir das ein oder andere nicht dürfen“, sagt Heiko Meyer vom Lüneburger Citymanagement. „Dafür bleibt uns aber die traumhafte Kulisse erhalten. Die gibt es in keinem Einkaufszentrum.“

Investoren, die solche am Stadtrand bauen wollten, hat das Rathaus ohnehin stets abgewimmelt: ein Grund für die florierende Fußgängerzone. Die weist laut Leuphana-Wissenschaftlern mit ihren rund 600 Ladengeschäften einen „guten Mix aus unabhängigen Geschäften und Filialen großer Ketten“. Selbst in der Haupteinkaufsmeile Bäckerstraße liegt der Anteil von Filialisten bei nicht viel mehr als 60 Prozent.

Und das stärkt die regionale Wirtschaft: Denn je mehr Ketten eine Stadt füllen, desto anfälliger für Krisen ist sie, siehe Schlecker und Karstadt.

Warum das so ist, dafür hat Jan Orthey einige Antworten. „Die Architektur in Lüneburg ist dankbar für kleine Geschäfte und unattraktiv für große. Filialisten finden hier nicht mal eben 1000 Quadratmeter, die ebenerdig sind.“ Hinzukommt, dass große Ketten häufig nur für Städte auf ihrer Expansionsliste haben, die mehr als 100.000 Einwohner haben.

Der Inhaber einer Buchhandlung hat das bundesweite Netzwerk „Buy Local“ gegründet, dem Kaufmann ist klar, dass ihm trotz aller Standortvorteile in Lüneburg „keine gebratenen Täubchen in den Mund fliegen“. Die Händler müssen innovativ sein, auf den Kunden zugehen anstatt andersherum. Und sie müssen zusammenarbeiten. „Lüneburg funktioniert, weil wir regelmäßig miteinander reden und nicht aneinander vorbei agieren.“

Trotzdem lassen sich auch auf der Insel der Glückseligen Probleme nicht verleugnen: Da ist die Filiale des immer wieder in der Kritik stehenden Textildiscounters kik ganz nah am populären Platz Am Sande, das sind die toten Fensterscheiben der alten Filiale der Hamburger Modekette Peek & Cloppenburg nach ihrem Umzug in größere Räume, da sind die Eigentümer, die Geschäftsleute mit horrenden Mietforderungen vergraulen oder die in Lüneburg niemand kennt, weil sie weit weg wohnen oder einem Immobilienfonds angehören.

Das große Gespenst Internet braucht Geschäftsinhaber heute derweil nicht mehr so zu schrecken wie noch vor zehn Jahren. Denn: „Heute informieren sich mehr Verbraucher online und kaufen anschließend stationär als andersherum“, sagt Susanne Eichholz-Klein vom Kölner Institut für Handelsforschung. „2008 war das umgekehrt: Mehr Leute informierten sich im Laden und kauften danach im Internet.“

Dennoch boomt kein Bereich so wie der Internethandel: Zwei Milliarden Euro Umsatz machte E-Commerce im Jahr 2000, heute sind es 38 Milliarden. Während kleine Fachhändler und Kaufhäuser seither Umsatzrückgänge verzeichnen, wächst der Internethandel gemeinsam mit den Discountern und den großen Fachmärkten und Filialisten.

Die Überlebensstrategie für Einzelhändler geht laut der Wissenschaftlerin daher „von der Bedarfsdeckung zur Inszenierung“. Das heißt: Der Konsument soll sich wohlfühlen im Laden, Produkte ausprobieren dürfen, überrascht – und besser beraten werden als beim großen Filialisten. „Das Plus des stationären Handels ist, dass er eine Vorauswahl trifft. Dabei muss er den Geschmack seiner Zielgruppe treffen“, sagt Eichholz-Klein. Und eines darf auch der kleinste Laden nicht vergessen: „Er muss zu finden sein. Auch online.“

Einer, der den Weg von der Kette zum eigenen Geschäft gegangen ist, ist Roland Riecken. Elf Jahre lang hat der heute 44-Jährige bei dem Hamburger Schuhhaus Görtz gearbeitet, vor 14 Jahren kündigte er und machte sich selbstständig mit einer Schuh-Boutique und einem Geschäft für Kinderschuhe.

Die Entscheidung für das eigene Geschäft und gegen die Arbeit für einen Filialisten bereut Riecken dennoch nicht. „Ich wollte raus aus der Konformität der Geschäfte. Ich möchte selbst entscheiden können.“