Jan Gehler vom Staatsschauspiel Dresden inszeniert am Thalia in der Gaußstraße Wilhelmsburger Lebensgefühle

Wilhelmsburg. Da war doch mal was mit einem Kampfhund. Die Tragödie um den sechs Jahre alten Volkan, den ein Pittbull zu Tode gebissen hatte, prägt das Bild des Hamburger Stadtteils Wilhelmsburg noch 14 Jahre danach. Und, na klar, die schwere Sturmflut. Das sind die beiden Assoziationen, die dem Theaterregisseur Jan Gehler als Erstes durch den Kopf gingen, als er begann, sich mit Wilhelmsburg zu beschäftigen. Der Hausregisseur am Staatsschauspiel Dresden inszeniert für das Thalia Theater in Hamburg die Welturaufführung des Stückes „Die Wilde 13“ von Olivia Wenzel – und damit ein Heimatstück über die Elbinsel. Premiere ist am 21. September.

Nach dem Kinderbuch von Michael Ende nennen die Einheimischen die Buslinie durch ihren Stadtteil „Die Wilde 13“. Das Thalia Theater hat die Metrobuslinie durch Hamburgs schwindelerregend schnell verändernden Stadtteil als theatralen Ort entdeckt. Hier, wo Alteingesessene und Zugezogene, bulgarische Tagelöhner und Architekten, politisch beschleunigt in einem stadtentwicklungspolitischen Gentrifizierungsexperiment aufeinander treffen, sitzt der Stoff für die Bühne sozusagen auf wenigen Quadratmetern im Bus.

Auf seine eigene, spezielle Weise hat sich der in Dresden-Neustadt lebende Jan Gehler, der vor drei Jahren mit der Uraufführung von Wolfgang Herrndorfs Roman „Tschick“ für Aufsehen sorgte, mit dem Blick des Außenstehenden dem Wilhelmsburger Kosmos angenähert. Wie, das erzählt der junge Theaterregisseur, Jahrgang 1983, bei einem Ortstermin in Wilhelmsburg bei einem Bier der Marke „Super Bock“ in dem portugiesischen Café „Seu“.

Wie Jan Gehler erging es vor dem Sommer auch den Schauspielern. Wilhelmsburg war unbekanntes Terrain. Deshalb schickte der Regisseur die Mimen in den Stadtteil. Mit der Aufgabe, Einheimischen zu begegnen. „Ich gab ihnen eine Stunde Zeit, um Gesprächsfetzen im Bus aufzuschnappen und anschließend daraus ein Gedicht zu verfassen“, sagt Jan Gehler. Rührend sollen die Verse gewesen sein. In dem Theaterstück werden sie aber nicht vorkommen. Schade eigentlich.

Jan Gehler erinnert sich noch an seine erste Begegnung mit Wilhelmsburg, als ihn der Kulturanthropologe, Filmproduzent und „Wilde 13“-Intimus Marco Antonio Reyes Loredo durch den Stadtteil führte. Es war gerade Wochenmarkt auf dem Stübenplatz. Am meisten beeindruckten ihn die Männergruppen, südosteuropäische Tagelöhner auf dem sogenannten „Arbeiterstrich“, die auf Arbeit im Hafen hoffen.

Transporter heilten am Straßenrand, Migranten steigen ein, andere aus. „Das perfekte Theaterstück, wie sie von einer Kreuzung zur anderen wandern. Mit einer ganz eigenen Dynamik, wie früher die Wimmelbilder“, beschreibt der Regisseur das ihm fremde Szenario, das vermutlich genug Dramatik und Schicksale für ein eigenes Theaterstück böte. Der neue Bioladen auf der einen Seite. Der Arbeiterstrich auf der anderen Seite. Das Phänomen Gentrifizierung zeigt sich im Wilhelmsburger Reiherstiegviertel turbobeschleunigt.

Jan Gehler kam nicht unvorbereitet in den Stadtteil. Er hatte das Buch „Die Wilde 13“ der Wilhelmsburger Kulturanthropologin Kerstin Schaefer gelesen, die als Erste das Geschichtenpotenzial dieser Buslinie entdeckt hatte. Er kannte auch den gleichnamigen Dokumentarfilm, der den Bus ins Kino und Fernsehen gebracht hat. Deshalb steigt Jan Gehler mit überhohen Erwartungen zu seiner ersten Fahrt in die „Wilde 13“: „Ich dachte, dass ist der krasseste Bus der Welt – und dann war es eine ganz normale Busfahrt.“

Kein Zweifel: Die kulturell überhöhte Buslinie verändert jeden, der sich mit ihr befasst. Und das Theaterstück „Die Wilde 13“ wird dazu beitragen, den Blick auf die Elbinsel zu verändern, auch wenn die Hochbahn-Busse hier genau so aussehen wie im übrigen Hamburg: „Wilhelmsburg ist mehr ein Gefühl als eine real existierende Umwelt“, beschreibt Reyes Loredo die besondere Identifikation mit dem Stadtteil. Bei einer Arbeitssitzung der Dramaturgen und des Intendanten kam der Wilhelmsburger Bus zur Sprache. Die Dramaturgin Anne Rietschel lebt auf der Elbinsel Veddel, kennt Kerstin Schaefers Buch. Intendant Joachim Lux schließlich sagte, Busse seien tolle theatralische Orte. So kam der Metrobus 13 ans Theater.

Wie viel Wilhelmsburg steckt in dem Bühnenstück „Die Wilde 13“? Gewiss ist es ein Heimatstück. Aber mit generellen Aussagen, die man auch in Berlin, Gelsenkirchen oder Dresden versteht. „Wir wollen nicht anmaßend sein“, sagt Jan Gehler, „ wir sagen nicht, so sieht es in Wilhelmsburg aus.“ Der Ort Wilhelmsburg sei vielmehr das Eintrittsticket zum Thema Menschsein. Kecke Seitenhiebe wie „Sind Sie von der IBA?“ dürften aber eher Einheimische als Dresdner verstehen.

Jan Gehler erfindet auch der Dramaturgie wegen Figuren, die in der „Wilden 13“ sitzen könnten. Wie im wirklichen Wilhelmsburg treffen Welten aufeinander: Menschen, die in den Luxus kommen, einen Stadtteil zu verändern. Und Leute, die einfach nur ein warmes Bett haben wollen.

Was empfände Regisseur Jan Gehler als größtes Kompliment? „Wenn mich jemand an der Bushaltestelle erkennt und sagt: ‚Krass, Du bist der vom Theaterstück!“, antwortet Jan Gehler spontan. Auf den Weg zurück in seine Gästewohnung in der Nähe des Thalia Theaters in der Gaußstraße macht er sich stilecht im Bus. Unerkannt vorerst.