Ausländerbehörde besteht auf Ausreise chinesischer Familie. In China erwarten sie Repressalien wegen Verstoßes gegen Familienplanungsgesetz

Sinstorf. Dritte Stunde, Englisch bei Frau Niemann-Baecker. Der Gong erklingt, die 4c kommt herein, die Schüler setzen sich. Jia Li, Zahra und Melike sind etwas spät dran, aber das ist entschuldigt: Die drei Freundinnen hatten Pausendienst. Sie haben die Spielgeräte für den Schulhof ausgeteilt, beim Klingeln wieder in Empfang genommen und im Verschlag verschlossen. Das dauert immer etwas länger, als der Gong erlaubt. Die Klasse ist schon ruhig, als die drei Mädchen nachkommen. Ohne zu stören, gehen die Freundinnen an ihre Tische. So geht das bei Frau Niemann-Baecker.

Innerlich ist Jia Li allerdings unruhig: Sie hat Angst, demnächst nach China abgeschoben zu werden. Die Ausländerbehörde besteht auf der Ausreise ihrer Familie und hat die Ausreiseverfügung auch gerichtlich durchgesetzt. Nur die Bürgerschaft kann noch ein Veto einlegen. Die Elternschaft an der Schule Scheeßeler Kehre hat mehrere Hundert Unterschriften für Jia Li und ihren kleinen Bruder Jia Rui, der hier die zweite Klasse besucht, gesammelt. Die Familie hat über ihren Anwalt eine Eingabe an die Bürgerschaft gemacht.

Der Eingabenausschuss hat den Vorgang an die Härtefallkommission überwiesen. Die tagt heute. Sprechen sich alle fünf Abgeordneten – einer von jeder Fraktion – dafür aus, die Ausreiseverfügung aufzuheben, wird alles gut. Stimmt nur einer dagegen, ist die letzte Chance für die Familie vertan.

Die Eltern, Mutter Lingyu Liu und Vater Wenjie Zou, sind nicht als politische Flüchtlinge nach Hamburg gekommen. Aber seit sie sich in Hamburg kennen lernten und gemeinsam drei Kinder bekamen – außer Jia Li und Jia Rui gibt es noch die zweijährige Jia Yi – drohen ihnen in China Repressionen, denn sie haben die Familienplanungsgesetze der Volksrepublik China gleich mehrfach gebrochen: Sie haben unverheiratet und ohne staatliche Genehmigung Kinder bekommen, noch dazu mehr als eines. Darauf stehen hohe Geldstrafen. Wer die nicht bezahlen kann, kommt ins Gefängnis. In dem Fall werden die Kinder auch nicht ins Melderegister eingetragen – weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Ohne Melderegistereintrag können Kinder nicht zur Schule. Obwohl es offiziell keine Zwangssterilisierungen gesetzeswidriger Mütter mehr geben soll, berichten Menschenrechtsorganisationen und Nachrichtendienste, dass es in einzelnen Provinzen, darunter auch Fujian, der Heimatprovinz der Mutter, immer noch dazu kommt.

Gerichte in anderen Bundesländern erkennen Elternschaft deshalb als Asylgrund an. In einem Urteil aus Baden-Württemberg wurden erst im März sowohl „Chinesen, die das Menschenrecht auf Familiengründung und Reproduktion wahrnehmen“, als auch „die illegal geborenen nicht ehelichen chinesischen Kinder“ als politisch verfolgte Gruppen im Sinne des Asylrechts definiert.

Die Schule Scheeßeler Kehre liegt auf der Grenze zwischen Langenbek und Sinstorf. Jia Li ist seit zwei Jahren hier. Vorher war sie auf einer anderen Harburger Schule. „Als Jia Li hier ankam, hatte sie große Rückstände“, sagt Kathrein Niemann-Baecker, die Klassenlehrerin. „Die hat sie allerdings schnell aufgeholt und ist mittlerweile im Klassenschnitt.“ In der Klasse ist Jia Li beliebt. Letztes Jahr war sie sogar Klassensprecherin. „Wenn es unter den Kindern Streit gibt, kann Li den immer schlichten“, sagt Melike über ihre Freundin, „Wir helfen uns auch immer gegenseitig bei den Aufgaben. Ich wäre wirklich total traurig, wenn sie weg muss.“

Im anderen Gebäudeflügel: Musik bei Frau Steinberg. Die Kinder der zweiten Klasse hocken im Sitzkreis und klatschen zum Text. Mittendrin macht Jia Rui fröhlich mit. Auch er ist bei seinen Mitschülern beliebt. „Rui hilft mir ganz oft bei den Matheaufgaben“, sagt Mitschüler David. „Außerdem ist er immer fröhlich, und das steckt richtig an.“

Kommt das Gespräch auf China, wird Jia Rui allerdings sehr still. Er atmet schwer und muss schniefen. „Da gibt es Leute, die uns von unseren Eltern wegnehmen wollen“, sagt er. „Davor habe ich Angst. Außerdem kann ich da nicht mehr zur Schule.“

Zur Schule gehen wollen beide. Die Geschwister wollen einmal kaufmännische Berufe ergreifen. Das geht nur, wenn sie bleiben dürfen. Heute tagt die Härtefallkommission.