Die ehemalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger zu Gast am Immanuel-Kant-Gymnasium

Marmstorf. Immer wieder schüttelte Paul Deuschle ungläubig den Kopf. Da stand sie wirklich leibhaftig im Fremdsprachen-Kabinett des Immanuel-Kant-Gymnasiums, umringt von seinen Drittsemestern, und stand geduldig Rede und Antwort: Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, ehemalige Bundesjustizministerin, und noch immer eine der profiliertesten und beliebtesten Frontfrauen, die die derzeit so arg gebeutelte Freie Demokratische Partei (FDP) je hatte.

„Dass sie wirklich extra aus Bayern nach Marmstorf gekommen ist, um sich unseren Fragen zum Thema Straftaten und ihre angemessene Bestrafung zu stellen, kann ich noch immer kaum fassen“, sagte der 29 Jahre alte Deutsch- und Englischlehrer. Das ringe Deuschle schon großen Respekt ab, bestätige aber nur den guten Ruf, den Sabine Leutheusser-Schnarrenberger trotz der Malaise ihrer Partei unverändert habe.

Dabei ist es keineswegs so, dass die 63 Jahre alte Juristin nach dem tiefen Sturz ihrer Partei bei der Bundestagswahl im vergangenen Jahr unter Langeweile oder gar Beschäftigungslosigkeit leiden würde. So gehört sie aktuell dem Beirat zum „Recht auf Vergessen“ an, gemeinsam mit sieben weiteren, weltweit anerkannten Rechtsexperten, unter anderem aus Spanien, Italien, Belgien, Polen und Guatemala. Deren Aufgabe ist es, bis Januar verbindliche Empfehlungen zu formulieren, damit Internetnutzer persönliche Daten von den Servern großer Suchmaschinen wie Google löschen lassen können.

„Die Diskussionsrunde am Kant-Gymnasium in Hamburg hat mich aber sofort gereizt“, gestand Leutheusser-Schnarrenberger dem Abendblatt. Dass sich junge Leute schon so intensiv und tiefgründig mit diffizilen Fragen von Schuld und Sühne, Recht und Gerechtigkeit auseinandersetzen würden, finde sie wichtig und bemerkenswert. Eine demokratische Gesellschaft brauche klare Regeln und Normen für das Zusammenleben. Ebenso wie ein nachvollziehbares Strafrecht mit abgestuftem Strafmaß für Gesetzesbrecher.

„Dennoch kann das Strafrecht nicht den Anspruch erheben, immer absolute Gerechtigkeit herzustellen. Die Menschen sollen sich aber zumindest gerecht behandelt fühlen“, so die Politikerin, die gleich zweimal Justizministerin war, nämlich von 1992 bis 1996 und von 2009 bis 2013. Wie wichtig ein demokratisch legitimiertes Strafrecht für dessen Akzeptanz sei, erschließe sich vor allem in Ländern, wo es als Drohpotenzial und zur Einschüchterung missbraucht werde.

Solche Tendenzen hatten die Kant-Gymnasiasten aber nicht nur in Diktaturen ausgemacht. Als im vergangenen Schuljahr im Englischkurs das Schwerpunktthema „Crime and Punishment“ auf dem Lehrplan stand, wurde überaus kontrovers auch über die Todesstrafe in den USA und über den spektakulären Deal im Verfahren gegen Formel-1-Impressario Bernie Ecclestone diskutiert und gestritten. Ohne dabei auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen.

„Deshalb haben wir Frau Leutheusser-Schnarrenberger ja eingeladen“, so Letitia Milewski. Ihrer Ansicht nach sei in der Diskussion mit der Justizministerin a.D. deutlich geworden, „wie schwer es sein kann, eine objektive Sicht auf verschiedene Fälle zu erlangen, weil eben jeder Fall individuell ist“.

So wie zum Beispiel die juristische Aufarbeitung des Entführungsfalls Jakob von Metzler. Der Bankierssohn war im September 2002 von dem Jura-Studenten Magnus Gäfgen entführt und umgebracht worden. Im Zuge der Ermittlungen soll Gäfgen Gewalt angedroht worden sein, um von ihm die Herausgabe des Aufenthaltsorts von Metzler zu erzwingen. Später mussten sich deshalb der ehemalige stellvertretende Frankfurter Polizeipräsident Wolfgang Daschner wegen des Verdachts auf Verleitung eines Untergebenen zu einer Straftat und Kriminalhauptkommissar Ortwin Ennigkeit wegen des Verdachts auf Nötigung im Amt vor Gericht verantworten und sind zu Geldstrafen verurteilt worden.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger verteidigte die Strafverfolgung der Polizisten, obwohl sie sich der schwierigen Konstellation damals sehr wohl bewusst ist: „Ein Rechtsstaat lebt aber davon, dass die Regeln eingehalten werden, und zwar von allen. Die Androhung von Folter ist nun mal nicht zulässig, da darf es keine Ausnahmen geben.“

Dass Bernie Ecclestone sich für 100 Millionen Dollar vom Vorwurf des Betrugs und der Untreue „freikaufen“ konnte, empfindet sie hingegen als großen Fehler: „Ein Deal in dieser Dimension ist mit Sinn und Zweck unserer gesetzlichen Regelung nicht in Einklang zu bringen.“ Zumal durch solch extrem hohe Summen das Vertrauen in den Rechtsstaat erschüttert werde.

„Für mich ist jetzt auf jeden Fall viel besser nachvollziehbar, wie wichtig es ist, dass wir in unserer Gesellschaft ganz klare Grenzen setzen“, zog Nele Hornig ein ganz persönliches Fazit. Während Mitschülerin Thalia Mortimer auch von der Ehrlichkeit und Bodenständigkeit der prominenten Politikerin „positiv überrascht“ war. Ob sie sich denn selbst immer an Recht und Gesetz gehalten habe, hatten die Kant-Gymnasiasten noch wissen wollen. Auch darauf erhielten sie eine klare Antwort: „Ja, auch ich fahre mit meinem Auto hin und wieder zu schnell. Und, ja, auch ich telefoniere mal am Steuer.“ Dabei sei sie jüngst sogar erwischt worden. Doch selbst die Tatsache, dass es ein dringender Anruf des bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer gewesen sei, hätte die Ordnungshüter nicht vom obligatorischen Strafmandat abhalten können. Das sie natürlich reumütig gezahlt habe.

Für so viel Offenherzigkeit erhielt die leidenschaftliche Kaffeetrinkerin Sabine Leuttheusser-Schnarrenberger denn auch eine besonders würzige Bohnenmischung und handgeschöpfte Schokolade aus der Speicherstadt, ein Buch mit bedeutenden Kant-Zitaten und einen Füller mit Gravur von den Gymnasiasten. So viel Dankbarkeit und Sympathie wurde zuletzt nur wenigen FDP-Größen zuteil.