Die Bücherei im Reiherstiegviertel ist eine der ältesten der Stadt. Sie überlebte Nazis, Sturmflut und Sparmaßnahmen

Erstaunt wirkt der Autor eines Artikels, der 1955 in der Wilhelmsburger Zeitung erscheint. Darin bemerkt er, dass die Bewohner der Elbinsel in ihrer Bücherhalle doch tatsächlich erzieherische und wissenschaftliche Literatur ausleihen. In dem Arbeiterstadtteil hatte man doch den Griff zur Schundliteratur, seichte und anzügliche Liebesgeschichten, erwartet.

Der Autor zieht ein erstes Fazit eines Bildungsexperiments, das zwei Jahre zuvor als gewagt galt: Die Bücherhalle hat im Jahr 1953 die Freihand-Ausleihe eingeführt. Kunden durften sich zwischen den Regalen bewegen und sich Bücher selbst aussuchen. Was heute selbstverständlich ist, war damals eine Revolution. Zuvor hatten die Bibliothekare das Exklusivrecht, Bücher aus dem Regal zu nehmen. Die Lesepäpste hinter der Theke gaben Empfehlungen, die wie ein Befehl wirkten.

Diese und andere Kuriositäten unserer Lesekultur hat die Leiterin der Bücherhalle Wilhelmsburg am Vogelhüttendeich 45, Sabine von Eitzen, recherchiert. Anlass ist der 111. Geburtstag, den die Wilhelmsburger Stadtteilbibliothek am heutigen Montag feiert. Die Bücherhalle Wilhelmsburg zählt damit zu den ältesten Büchereien Hamburgs.

Unklar bis heute ist, ob 175 ursprünglich aus der Wilhelmsburger Bücherei stammende Titel vor der Verbrennung durch die Nationalsozialisten gerettet worden waren, in dem sie der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen geschenkt wurden. Dieser Bücherbestand überdauert bis heute in der niedersächsischen Universitätsstadt. Leicht zu erkennen, an dem durchgestrichenen Stempel aus Wilhelmsburg. Eine Auswahl dieser Bände zeigt die Bücherhalle Wilhelmsburg jetzt in einer Ausstellung.

Die außergewöhnliche Geschichte der öffentlichen Bücherhalle in Wilhelmsburg begann 1903 im Lehrerzimmer der Schule Fährstraße, die damals Schule III hieß. Schuldirektor Heinrich Meyer gründete die Volksbibliothek zu Wilhelmsburg mit ganzen 84 Bänden im Lehrerzimmer. Heute zählt der Bestand der Bücherhalle etwa 16.000 Medien, Bücher, Zeitschriften, CDs, DVDs, Computerspiele.

Die beliebtesten Bücher in der Ausleihe vor 111 Jahren waren der Roman „Das Logbuch des Kapitäns Eisenfinger” von Balduin Möllnhausen, Peter Roseggers „Idyllen aus einer untergegangenen Welt” und “Die Sandgräfin” von Gustav Frenssen, in der Kaiserzeit ein Bestseller. Später, in der Bundesrepublik, rechnet die Literaturwissenschaft mit dem Autor ab, weil er in seinen Werken fremdenfeindliches Gedankengut verbreitet hat.

Jeder erwachsene Wilhelmsburger durfte zur Kaiserzeit Bücher ausleihen, wenn er eine „Erlaubniskarte” erhalten hat. Jede Entleihung kostete fünf Pfennig.

Im Jahr 1933 verbrennen die Nationalsozialisten jede Literatur, die ihnen nicht genehm ist. „Säubern” nennen sie das. In der Wilhelmsburger Bücherei schrumpft der Bestand. Die Bücher von Erich Kästner, Heinrich Mann, Bertolt Brecht und vielen anderen fallen den Flammen zum Opfer.

Im Jahr 1944 zerstören Bombenangriffe auf Hamburg die Bibliothek, die inzwischen in die Fährstraße 47 umgezogen war. 1949 eröffnet die Bücherei wieder in einem kleinen Ladengeschäft in der Fährstraße. „Es soll so eng gewesen sein, dass man sich kaum umdrehen könnte”, hat Sabine von Eitzen in einem Zeitungsartikel von damals entdeckt.

Bei der großen Sturmflut 1962 erlebt die Bücherhalle die nächste Verwüstung: Klebriger Elbschlamm verwüstet jedes in den unteren Regalen stehende Buch – insgesamt 1800 Bände. Die unverwüstliche Bücherhalle überlebt auch die Naturkatastrophe. Acht Monate dauert der Neuaufbau. „Die Büchereiangestellten haben fingerdicke Krusten Schlamm abgekratzt”, weiß Sabine von Eitzen.

Auf die Sturmflut folgt der Exodus der deutschen Bevölkerung aus dem Reiherstiegviertel. Migranten, früher Gastarbeiter genannt, ziehen in das Quartier. Die Bücherhalle reagiert mit Lesungen in türkischer Sprache.

Was die Nationalsozialisten, Weltkriegsbomben und Sturmflut nicht geschafft haben, wäre 1998 und 1999 beinahe der Stadt Hamburg gelungen. Wegen drastischer Etatkürzungen droht der Bücherhalle Wilhelmsburg die Schließung. Proteste der Bevölkerung verhindern das. Die Bibliothek wird sogar schöner und größer und zieht an ihrem heutigen Standort am Vogelhüttendeich um. Was hat sich in den 111 Jahren nicht verändert? „Trotz vieler neuer Medien ist das Buch immer noch da“, sagt Sabine von Eitzen. Und bis heute sei geblieben, dass die Wilhelmsburger überdurchschnittlich viele Sachbücher ausleihen.

Eine Spezialität der Bücherhalle Wilhelmsburg ist ihr großer Bestand an zweisprachigen Bilderbüchern – sogar in arabischer und kurdischer Sprache. Ein Besuch lohnt sich auch wegen einer in ganz Hamburg einzigartigen architektonischen Besonderheit: In Wilhelmsburg bewegen sich die Kunden den Bücherregalen im Kreis entlang.