In Winsen schickte die Polizei einen Beamten am hellen Tag auf eine inszenierte Diebestour und testete, wie Passanten reagierten

Winsen. Timo Schlüschen hat alles richtig gemacht. Als der junge Mann aus Luhdorf am frühen Donnerstagnachmittag am Bahnhof in Winsen ankommt, liegt der Vorplatz zunächst verlassen da. Er schließt sein Fahrrad in einer stählernen Box ein und will sich gerade auf den Weg zum Bahngleis machen, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung beobachtet. An den Fahrradständern ein paar Meter weiter macht sich ein Mann an einem Drahtesel zu schaffen. In der Hand hält er einen großen Bolzenschneider, in Sekundenschnelle ist das Stahlschloss, mit dem das Rad gesichert ist, aufgebrochen. Timo Schlüschen kommt das alles sehr Spanisch vor. Er geht auf den Mann zu und fragt ihn geradeheraus, was er da gerade mache.

Wie ein echter Fahrraddieb reagieren würde, wird Timo Schlüschen nie erfahren, diesmal hat er einen Polizisten inkognito vor sich. Kommissaranwärter Bartlomiej Ogorzalek hat sich zur Verfügung gestellt und mimt den Dieb. Im Hintergrund warten vier Kollegen vom Polizeikommissariat an der Luhdorfer Straße und beobachten das Verhalten der Passanten. Wer vorbeigeht, ohne zu reagieren, den sprechen die Beamten an.

Aus der Garage am Polizeikommissariat an der Luhdorfer Straße wurden drei Räder aus dem Bestand der Fundstücke ausgewählt und für die Aktion mit handelsüblichen Schlössern an markanten Stellen rund um den Bahnhof platziert. An zwei überdachten Fahrradständern links und rechts des Bahnhofsgebäudes gibt es die Möglichkeit, den Drahtesel fest anzuschließen. Auf der anderen Seite der Gleise am Schützengehölz reiht sich an einem Metallzaun ein Rad an das andere, wer zu spät kommt, muss sein Gefährt in der freien Wildbahn abstellen. Während Timo Schlüschen gleich als erster Testkandidat alles richtig gemacht hatte, gab es anschließend für die Polizeibeamten reichlich Gelegenheit, die Winsener anzusprechen. Denn während sich Testdieb Bartlomiej Ogorzalek in aller Seelenruhe am hellen Tag mit seinem Bolzenschneider an den präparierten Rädern zu schaffen macht, gehen teilweise ganze Menschengruppen an ihm vorbei, ohne zu reagieren. „Der guckte so harmlos und nett, da haben wir überhaupt nichts Schlimmes vermutet“, sagen zum Beispiel Helga Bonesse und Peter Marquardt aus Winsen. Nachdem Polizeikommissarin Annika Huisinga das Paar angesprochen hat, ist für die beiden Senioren klar: „So fallen wir nicht noch mal rein.“ Zumindest diese beiden haben aus dem Vorfall ihre Schlüsse gezogen – so viel Einsicht ist nicht bei jedem Passanten zu spüren, der einfach an dem Fahrraddieb vorbeigegangen war. Kommentare wie „Ich dachte, er hatte seinen Fahrradschlüssel verloren“ bis hin zu „Ist mir doch egal“, mussten sich die Beamten mehrfach in den Gesprächen anhören.

Mit der Aktion will die Polizei alle Winsener für ein Problem sensibilisieren, das gerade in jüngster Zeit verstärkt in den Vordergrund gerückt ist. „Die Zahl der Fahrraddiebstähle haben im Vergleich zum Vorjahr zwischen Januar und Juli zwar nur leicht zugenommen, aber in den letzten beiden Wochen verzeichnen wir rund um den Bahnhof einen abrupten Anstieg“, berichtet Ulrich Grimm, Leiter des Kriminalen Ermittlungsdienstes in Winsen. 19 Radlern wurde der Drahtesel gestohlen, dazu kamen zwei „Teilentwendungen“, in einem Fall bauten Unbekannte ein Vorderrad ab, das immerhin 260 Euro wert war. Er empfiehlt, das Fahrard immer an einem fest verankerten Platz abzustellen. Zudem machen es Bügelschlösser aus Stahl den Dieben etwas schwerer als Kettenschlösser. Denn um sie zu knacken, braucht man schon eine Säge, während auch die dicksten Kettenschlösser in wenigen Sekunden mit jedem handelsüblichen Bolzenschneider aus dem Baumarkt aufgebrochen werden können. „Man sollte beim Kauf etwas mehr investieren und auf die Härte des Stahls achten“, rät Grimm. Eine weitere Schwachstelle ist das Schloss selbst, „das wird mit minimalem Aufwand einfach aufgedreht“.

Gestohlen werden Räder aller Art vom schicken Bike bis zum klapprigen Drahtesel: „Die teuren Räder werden weiterverkauft, aber viele stehlen eins, um damit schnell mal von A nach B zu kommen“. Das Resultat sieht man auf dem Gelände des Winsener Polizeikommissariats. Zwei Garagen sind randvoll mit Fundrädern.

Schön wäre es, so viele Räder wie möglich an den rechtmäßigen Besitzer zurück zu geben – doch ohne Registrierung ist das fast unmöglich. Ulrich Grimm appelliert deshalb ausdrücklich an alle, ihr Zweirad bei den regelmäßig stattfindenden Aktionen der Polizei registrieren zu lassen

„Wir wollen erreichen, dass der eine oder andere genauer hinschaut, das Handy zückt und uns anruft“, erklärt Ulrich Grimm das inszenierte Schauspiel an den Fahrradständern. Zweimal in den vergangenen Wochen gingen Meldungen von Bürgern, die Unbekannte beim Fahrradklau beobachtet hatten, bei der Polizei ein. „Davon wünschen wir uns mehr. Mehr Zivilcourage und dass man an andere denkt.“ Denn ohne die Hinweise aus der Bevölkerung, sei es, wenn sich jemand Unbekanntes auf dem Grundstück des Nachbarn rumtreibt, Menschen grundlos angegriffen werden und eben auch bei Diebstählen vor aller Augen, kann die Polizei nicht in Aktion treten: „ Wir sind bei der Aufklärung von Straftaten, die in der Öffentlichkeit passieren, auf Hinweise aus der Bevölkerung angewiesen“, betont Ulrich Grimm.

Ob Fahrraddiebstahl oder Körperverletzung – wer wegsieht und nicht in Aktion tritt, muss mit sich und seinem Gewissen verantworten, dass andere zu Schaden kommen. Wer nicht wegsehen will, dem empfiehlt Grimm, zunächst den Täter direkt an zu sprechen. Reagiert der nicht, sollte man sich möglichst viele Einzelheiten einprägen, um später eine genaue Beschreibung abgeben zu können und die Polizei über 110 zu informieren. Ulrich Grimm: „Auch wenn die Hemmschwelle, das Telefon in die Hand zu nehmen, groß ist – lieber einmal mehr anrufen, als einmal zu wenig“.