Szene entwickelt sich in Wilhelmsburg nur schleichend. Die Café-Bar Deichdiele gibt es jetzt seit drei Jahren

Wilhelmsburg. Studentinnen sitzen hier über ihren Laptops gebeugt und schlürfen Ingwertee. Daneben haben alteingesessene Wilhelmsburger Platz gefunden, bevorzugen aber ein kühles Blondes. Die Frau um die 40 trinkt Wein. An einigen Abenden, meist donnerstags und freitags, macht ein DJ Musik. Sonntags treffen sich Gäste und sehen gemeinsam „Tatort“ im Fernsehen. Mit der Deichdiele bietet Gastgeber Andreas Kürschner einem heterogenen Wilhelmsburger Publikum ein gemeinsames Wohnzimmer. Genau drei Jahre gibt es mittlerweile die Café-Bar in der Veringstraße 156. Sie ist einer der seltenen Gründe, auch nachts auf den Elbinseln auszugehen.

In insgesamt sieben Jahren hat die Internationale Bauausstellung Hamburg die Struktur Wilhelmsburgs und damit die Zusammensetzung der Bevölkerung verändert. Dem rasanten Wandel des Stadtteils hinkt die Entwicklung einer nächtlichen Ausgehkultur hinterher. Orte wie die Deichdiele sind seltene Oasen: Das Rialto-Kino war nur ein Intermezzo für einen Sommer. Die Soulkitchenhalle musste schließen, weil die Statik gefährlich sein soll.

Die Szene ist überschaubar: Neben den Veranstaltungszentren Honigfabrik und Bürgerhaus bietet noch das Restaurant Mittenmang Live-Musik. Nachts steht der Pistengänger lediglich vor der Frage: „In die Bar Tonne oder in die Deichdiele?“

Über die Gründe, warum sich Szene nur schleichend in Wilhelmsburg herausbildet, kann auch Andreas Kürschner nur mutmaßen. Nur weniger der vorhandenen Gewerbeflächen würden sich für Gastronomie eignen. „Vermieter wandeln Gewerbeflächen lieber in Wohnungen um“, sagt der Barbetreiber. Andreas Kürschner ist davon überzeugt, dass auf den Elbinseln noch Platz für weitere Bars und Clubs sei. „Die Nachfrage wäre da“, sagt er.

Der heute 36-Jährige kam als zwölf Jahre alter Junge mit seinen Eltern aus Stralsund in das damals ungleich rauere Wilhelmsburg. „Der Ort war schlimm“, erinnert Andreas Kürschner sich an gefährlich aussehende, herumlungerte Jugendliche und schmunzelt. Er spielte ganz passabel Fußball und verschaffte sich so Respekt.

Andreas Kürschner wurde Dekorateur, zog nach St. Georg und später ins Rheinland – um vor zehn Jahren, lange vor der Bauausstellung, auf die Elbinseln zurückzukehren. Hier tummelte er sich in dem informellen Kulturverein Südbalkon. In der „Bar St. Georg“ lernte er , was ein Wirt wissen muss.

Als Andreas Kürschner seinen eigenen Laden eröffnen wollte, zeigt ihm Soulkitchenhallen-Erfinder Mathias Lintl den leer stehenden Zeitungskiosk in der Veringstraße 156 – und die Deichdiele war geboren. Es war eine schwierige Geburt, denn Kürschner musste das Ladengeschäft in dem 1904 erbauten Jugendstilhaus sechs Monate lang entkernen lassen. Das seine Lebenspartnerin Maite Reinecke Architektin ist, war dabei ein Glücksfall.

Ein Glücksfall für Pistengänger ist die Getränkekarte, denn die Deichdiele liebt es, die Neugier der Leute zu wecken. Am Lakritzstammtisch unter Freunden ist der Lakripresso geboren worden, ein Espresso mit Lakritzlikör und einem Hauch Schokolade.

An der Speisekarte lässt sich der Bevölkerungswandel auf den Elbinseln ablesen. Vegane Speisen hätte vor zehn Jahren noch wohl niemand angerührt. In der Deichdiele tragen die Brötchen Städtenamen. So unumstritten der mit Ziegenkäse, Honig-Senf, Tomate und Rucola belegte Teigling der Verkaufsschlager ist, so umstritten ist sein Name: „Düsseldorf“ polarisiert eben. Hemdsärmelig bodenständig ist das Brötchen „Kirchdorf“ – nur mit Hähnchenbrust und Gouda darauf.

Die Illustratorin Sarah Roloff zählt zu Kürschners unersetzlichen ehrenamtlichen Helfern. Jede Woche bemalt sie die Scheiben der Café-Bar neu und ist damit eine Attraktion. Denn wenn sie spiegelverkehrt und scheibt und die Buchstaben wie selbstverständlich auf das Glas zaubert, zücken Passanten schon mal fasziniert das Fotohandy.

Sarah Roloff stellt auch als Bookerin das Kulturprogramm an etwa zehn Tagen im Monat zusammen, organisiert Ausstellungen, meist Fotografie, Konzerte und Filmabende.

Als Szene-Pionier auf der Elbinsel ist Andreas Kürschner zufrieden im dritten Jahr: „Beharrlichkeit“, sagt er, „zahlt sich aus.“