Bewohner der Elbinseln schreiben die erste literarische Betrachtung der Nach-IBA-Zeit. Daraus soll ein Buch werden

Wilhelmsburg. Zwölf Bewohner der Elbinseln schreiben in Kurzgeschichten über das Leben in Wilhelmsburg. Es geht um die Veränderungen im Stadtteil, die die Internationale Bauausstellung (IBA) und die Internationale Gartenschau mit sich brachten. Um die Rolle der vielen Migranten und um den Ruf Wilhelmsburg im übrigen Hamburg. In ihren Geschichten beschreiben die Autoren die Konflikte, die den Stadtteil prägen. Am Ende soll ein Buch daraus werden und möglichst Ende des Jahres erscheinen.

„Literaturwegen“ nennt sich die Schreibwerkstatt. Sie ist die erste literarische Betrachtung der Nach-IBA-Zeit. In den vergangenen Jahren sei viel in den Medien über die Elbinseln geschrieben worden. Jetzt sei es an der Zeit, dass die Bewohner selbst berichten – in Form von Geschichten.

Das Literaturprojekt leiten der Autor und Schreibtrainer Jörn Ehrnsberger, der sein Büro in den Wilhelmsburger Zinnwerken hat, und der Journalist und Mediendozent Thorsten Stegemann. Das Großereignis Gartenschau sei entweder gefeiert oder gehasst worden, sagt Ehrnsberger. „Dazwischen gab es nichts. Aber ich meine, das wahre Leben findet genau dazwischen statt“, erklärt Jörg Ehrnsberger die literarische Entdeckungsreise. Und so bringt er den zwölf Frauen und Männern im Alter von 18 bis 75 Jahren, Erlebnisse ihres eigenen Lebens in Kurzgeschichten zu verwandeln.

Klischees aufzubrechen ist ein Thema der Schreibwerkstatt. Besonders schön gelingt das Yvonne Bedarf. In ihrer Geschichte geht die 29 Jahre alte Biologin humorvoll mit dem Ruf des Ortsteils Kirchdorf-Süd um, der im übrigen Hamburg immer noch als berüchtigt gilt.

Kafkaesk steigert sich ihre Protagonistin, eine Neubürgerin Kirchdorf-Süd, in die vermeintliche Gefahr hinein, die von der Hochhaussiedlung ausgehen soll. Sie gerät in Panik, fühlt sich verfolgt. Tatsächlich ist ihr ein dunkel aussehender Nachbarsjunge auf den Fersen – um ihr das Portemonnaie zu bringen, das sie im Discounter-Markt vergessen hat. Yvonne Bedarf lebt in Kirchdorf-Süd und sagt: „Ich fühle mich dort wohl.“

Die Politikstudentin Nazli Djafarbegloo aus Kirchdorf arbeitet seit Jahren in verschiedenen Tanzprojekten mit Kindern aus Wilhelmsburg. Sie macht sich Gedanken, weil immer mehr Kinder die Fähigkeit zur Bewegung verlören. In ihrer Geschichte schreibt sie über ein Mädchen, das sich missverstanden fühlt und dessen Fähigkeit zu tanzen nicht gefördert wird. „In Othmarschen“, hat die Studentin beobachtet, „sehen die Kinder gesünder aus als in Wilhelmsburg.“

Der 74 Jahre alte Harald Uebler aus Kirchdorf hat früher „drüben“, wie er das Hamburg nördlich der Elbe nennt, als selbstständiger Unternehmer gearbeitet. Seine Geschichte führt in die Vergangenheit. Damals im Zweiten Weltkrieg, als die Einwohner von Neuhof bei Bombenangriffen in den U-Bootbunker flüchten müssen, weil der Flakbunker in der Neuhöfer Straße zu weit entfernt war. Den neuen Inselpark, das frühere Gartenschaugelände, sei ein Gewinn sagt Harald Uebler.

Viele der Autoren werden ihre Geschichten im Rahmen der Wilhelmsburger Lesewoche zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentieren. Mediendozent Thorsten Stegemann hält die Form der Lesung für besonders gut geeignet: „Zu diesen Geschichten muss man doch die Menschen sehen“, sagt er. Voraussichtlich Ende des Jahres soll die literarische Betrachtung Wilhelmsburgs als Buch erscheinen. Noch fehlen dazu 5000 Euro im Budget.

Das Besondere an der Schreibwerkstatt sind auch die Kulissen, in denen sich die Autoren zum Meinungsaustausch treffen. Jörn Ehrnsberger und Thorsten Stegemann wählten dazu eine Barkassenfahrt und einen Workshop auf dem Bauhüttenschiff Fried im Spreehafen aus. Möglich machen dies die Projektträger, das Förderwerk Elbinseln und die Stiftung Bürgerhaus Wilhelmsburg.

Das Literaturprojekt steht letztlich auch für eine städtebauliche Entwicklung Wilhelmsburgs. Das Arbeitstreffen auf dem Lieger Fried ist ein erster, kleiner Schritt zur Öffnung des Spreehafens für die Bürger. Noch gibt es einen Konflikt zwischen den Vorstellungen der Hafenwirtschaft und Stadtplanern bei der Entwicklung der „Alster des Südens“. So hat Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz euphorisch den Spreehafen genannt.