Gebäude mit Geschichte. Häuser, die seit Jahrhunderten dieselbe Nutzung haben. Heute: die Ratsbücherei Lüneburg

Diese Mauern schützen seit mehr als 450 Jahren das Gleiche: Bücher. Die Alte Ratsbücherei Lüneburg bildet den Auftakt zu einer lockeren Serie über Gebäude in der südlichen Metropolregion Hamburg, die seit Jahrhunderten dieselbe Nutzung haben: ob als Bibliothek oder Bauernhaus, Gasthaus oder Apotheke.

Sie machten mit der Forderung nach Besitzlosigkeit Ernst: die Mönche des Franziskanerordens von Franz von Assisi. Herzog Otto das Kind siedelte die Mönche 1235 in Lüneburg an, sie bauten ihr Kloster nahe dem Rathaus. Wo ihre Kirche stand, liegt heute ein Parkplatz. Aus Klosterzeiten übrig geblieben ist aber der einstige Kreuzgang des Marienklosters: Dort hütet die Hansestadt Lüneburg historische Schriften bis aus dem 12. Jahrhundert, von Klosterhandschriften über juristische Texte bis zu Musikalien.

Wer die ansehen will, muss Wissenschaftler sein – und Handschuhe tragen. Damit auch alle anderen einen Eindruck bekommen können von dem Schatz, den die alten Mauern am Marienplatz hüten, hat die Stadt 1999 eine Tür mit Panzerglas zum Magazin im alten Klosterkreuzgang gebaut: Durch die kann jeder gucken, solange die Ratsbücherei geöffnet ist.

Kühl ist es im ältesten Raum der Bibliothek, 15 Grad zeigt das Thermometer im klimaregulierten Kreuzgang an. Hier und im Raum gegenüber liegen Bücher im unvorstellbaren, wenn auch unverkäuflichen Wert von etwa 50 Millionen Euro. Wenn die Ratsbücherei eine ihrer wertvollsten Schriften verleiht, entscheidet darüber nicht der Chef, sondern der Verwaltungsausschuss des Rates: das höchste Gremium der Stadt.

Eine Sensation des Hauses ist eine Karte aus der Zeit um 1320: Der fast 700 Jahre alte Bogen zeigt mit Federkiel gezeichnet die Franziskaner-Provinzen von Europa bis zum Nahen Osten – auf einer Erde, die eine Scheibe und von Wasser umgeben ist. „Diese Karte ist eine echte Rarität, etwas ganz Besonderes“, sagt Dr. Thomas Lux, Leiter von Ratsbücherei und Stadtarchiv. Unscheinbar in einer üblichen Predigtsammlung verborgen, hat Lüneburg seinen Schatz erst vor wenigen Jahren für eine bundesweit beachtete Ausstellung in Paderborn ausgeliehen.

Zwei Sachsenspiegel, ein Schwabenspiegel und der Wevelkoven-Missale: Das sind die wohl wichtigsten Schriften im Bestand. Geschrieben im 15. Jahrhundert, sind die Pergamenthandschriften in eigens dafür angefertigten Holzkästen verschlossen.

Die Spiegel sind die Gesetzestexte jener Zeit, im Sachsenspiegel von 1442 steht das sächsisch-germanische Recht auf 282 Blättern geschrieben und kommentiert. Er gilt als die erste deutsche Niederschrift von Gesetz und Ordnung. Der Originaltext stammt aus dem 13. Jahrhundert, ist aber verschollen. Berühmt ist der Band für seine vier großen Bilder: Eines zeigt Herzog Otto als Kind, wie der Kaiser ihm die Lehnsurkunde übergibt und er die Stadtprivilegien an die Bürger weiterreicht. Die Größe der Figuren ist ihrer Bedeutung angepasst: Der Kaiser ist im Sitzen so groß wie der Herzog im Stehen, die Bürger sind die kleinsten Personen. Der Wevelkoven-Missale mit seinen 371 Blättern ist ein Messbuch, 1392 von Gerhard von Wevelkoven für den Altar von St. Johannis gestiftet. Es fasst die lithurgischen Schriften jener Zeit zusammen, in Latein und mit Hufnagelnoten.

Geschrieben sind die Bände per Hand und ohne Schablone. Fünf Männer, meistens Mönche, arbeiteten im Mittelalter an einem Buch: Einer schrieb, einer zeichnete Zierbuchstaben und Initialen, einer malte Miniaturen, einer zog die Schriftlinien und einer band das Buch. Die Farbe ist 600 Jahre alt, auch das Gold, gewalzt und per Pinsel aufgetragen, ist so alt wie die Bücher.

Einzigartig sind die Lüneburger Orgeltabulaturen: Als wichtigste und teilweise einzige Quelle für die Werke Franz Tunders und Heinrich Scheidemanns kommen immer wieder Musikforscher aus der ganzen Welt nach Lüneburg, um in den bekannten Kostbarkeiten zu blättern.

Insgesamt 2500 Bände lagern alarmgesichert im Kreuzgang-Magazin der Ratsbücherei. Schräg gegenüber liegt das große Magazin der Bibliothek, darin sind noch heute die Auswirkungen des Brandanschlags des Lüneburger Feuerteufels Rademacher von 1959 sichtbar. Und zwar an den verkohlten Buchrücken: 18.000 Bände wurden damals beschädigt, 9000 sind komplett verbrannt.

Die Ratsbücherei der Hansestadt Lüneburg gehört zu den ältesten städtischen Büchereien Deutschlands, heute passt sie sich den Veränderungen der Gegenwart an: So ist das meist ausgeliehene Medium im Jahr 2013 kein Buch, sondern ein Film: „Our Idiot Brother“.

Wer es zu den Öffnungszeiten nicht schafft, kann seine Medien in einen Rückgabekasten werfen – und wer lieber elektronisch liest anstelle auf Papier, kann sich bei der Ratsbücherei 600 Jahre nach den ersten Handschriften E-Books ausleihen: von überall auf der Welt und zu jeder Zeit.

Der Schritt vom Lesen auf Papier zum Lesen auf Kunststoff, vom Analogen zum Digitalen, ist auch für eine altehrwürdige Institution notwendig, sagt Dr. Thomas Lux, Leiter von Lüneburger Ratsbücherei und Stadtarchiv. „Auch wenn es noch so abgedroschen klingt: Wir verbinden Tradition und Moderne. Bei dem Versuch, das Haus zu modernisieren und am Ball zu bleiben, ist die Onleihe eine strukturell notwendige Ergänzung. Nur so können wir unseren Auftrag weiter erfüllen.“