Beim Feriencamp „Lüttville“ bauen Jungen und Mädchen ihr eigenes Baumhaus, produzieren eine Radiosendung und essen vegetarisch

Wenn Kinder heute, egal ob in der Stadt oder auf dem Land, überhaupt noch in ein Baumhaus klettern, dann nur noch mit zusätzlicher Unfallversicherungspolice und in einen mit Sicherheitssiegel versehenen Fertigbau aus dem Baumarkt. In „Lüttville“, dem Feriencamp des Musikfestivals Dockville, ist das anders: Auf der wilden Brache am Reiherstiegknie sind Abenteuer noch möglich.

Stufen aus Holz in den Baumstamm nageln. Zwischen den Ästen in der Baumkrone ein Geheimversteck bauen. Mit den nackten Füßen im Schlamm treten und daraus einen Lehmofen bauen, um später darin Pizza zu backen. Kinder von den Elbinseln dürfen fünf Tage Dinge tun, die den Rest des Jahres nahezu unmöglich scheinen. Und ganz nebenbei wecken Pädagogen, die nicht als Lehrer, sondern als Freunde auftreten, die kreativen Fähigkeiten in ihnen.

Noch bis Freitag hämmert der neun Jahre alte Tyrone in mehr als zwei Meter Höhe ein Baumhaus zusammen. „Wir bauen eine Plattform und vielleicht Wände“, erklärt er die Architektur. Sicher wie ein Vogel auf dem Zweig sitzt der Junge auf dem Ast und hantiert mit der Astschere. Auch Felix, 7, Jendrik, 9, Gabriela, 8, und Ricardo, 8, arbeiten geschickt mit dem Werkzeug und machen die wertvolle Erfahrung, mit ihren Händen etwas Großes zu erschaffen.

„Lüttville“, das für die Kinder kostenlose Feriencamp des MS Dockville Musikfestivals, gibt es mittlerweile im siebten Jahr. Etwa 55 Betreuer versuchen innerhalb der fünf Ferienlagertage bei den 150 Kindern und Teenagern, die Begeisterung zu wecken, selbst kreativ tätig zu werden. Saskia Veyhle ist im Hauptberuf Lehrerin für Kunst und Biologie an der Stadtteilschule Bahrenfeld. Vor zwei Jahren stieß sie als ehrenamtliche Helferin zu „Lüttville“. Seit diesem Jahr organisiert sie das Feriencamp in einem Quartett zusammen mit Eva Klauke, Jessica Knust und Laura Raber.

Da hat die Lehrerin nun endlich die großen Ferien und managt ein Kindercamp? Sie sehe die Kinder bei „Lüttville“ durchatmen. Viele würden sich in Pausen an ihre Schulter lehnen und einen Moment Zuneigung suchen, erklärt Saskia Veyhle, warum diese Ferienfreizeit so wichtig ist. „Wir haben Kinder dabei, die vor drei Wochen vor dem Krieg in Syrien geflohen sind“, sagt sie noch. Aber auch für viele Kinder von den Elbinseln bedeutet „Lüttville“ die einzige Möglichkeit, ein Urlaubsgefühl zu bekommen.

Etwa 45.000 Euro kostet das Camp, damit es für die Kinder kostenlos ist. Es finanziert sich aus Spenden. In diesem Jahr habe die Finanzierung auf des Messers Schneide gestanden, sagt Jean Rehders, der sich in dem Verein Lüttville engagiert und einer der Erfinder des MS Dockville Festivals ist. Das Kindercamp garantiert einen kostenlosen Bustransfer und eine gesunde Mahlzeit.

Sieben Helferinnen opfern ihre Freizeit und schneiden ab 9.30 Uhr Obst und Gemüse für mehr als 200 Menschen. Vegetarischer Döner steht an einem Tag auf der Speisekarte. „Den Kindern wird Gemüse untergejubelt“, sagt Saskia Veyhle und grinst schelmisch. Einigen Kindern kommt die Soja-Bulette dann doch spanisch vor. Aber der Verein Lüttville hat beschlossen, ausschließlich vegetarische Kost anzubieten. Fleischlos, da ist man bei allen Kulturen auf der sicheren Seite.

Als Feriencamp eines Musikfestivals ermöglicht „Lüttville“ einen Kindern und Jugendlichen eine in Deutschland wohl einzigartige Karriere: Nach fünf Tagen Training mit Tanzlehrer Tobias Galke von der HipHopAcademy werden sie einen Song lang in die Show eines Stars katapultiert und dürfen beim Dockville-Festival auf einer großen Bühne vor 5000 bis 10.000 Menschen auftreten. „Lüttville“-Kinder haben bereits mit Marteria und Jan Delay auf der Bühne getanzt. In diesem Jahr wird voraussichtlich die deutsche Popband OK Kid zusammen mit den Wilhelmsburger Kindern den Song „Stadt ohne Meer“ performen.

Auch die brasilianische Kampfkunst Capoeira ist vertreten. Der aus Angola stammende Capoeira-Lehrer Vitor Hugo erklärt, das dieser Kampfsport in Afrika von den Sklaven erfunden und in Brasilien weiter entwickelt wurde. Capoeira ist eine tänzerisch-akrobatische Kampfsportart, die viel mit Spiel, Rhythmus und Tanz zu tun hat, was den Kindern sichtlich Spaß bereitet. „Sie trainieren drei Stunden am Stück und turnen sogar in der Pause weiter herum", erzählt Hugo. Die Kinder haben bereits nach ein paar Tagen schon erstaunliche Moves drauf.

Neu bei „Lüttville“ ist der Radio Workshop. Die Kinder laufen mit Mikrofon und Kopfhörer im Camp herum und führen Interviews mit anderen Kindern und Leitern. Am Freitag, 24. Juli, gehen sie ins Studio des Radiosenders Tide, wo ihr Material sogar auf Sendung geht (13 bis 14 Uhr). In Interviews mit den anderen Kindern arbeiteten die jungen Radiomacher heraus, dass den Teilnehmern die Gemeinschaft und der Zusammenhalt, die sie im Camp erleben, am wichtigsten sind.