In der Reihe Buchholzer Dialoge referierte der Architekt und Soziologe Dr. Albrecht Göschel über Wunsch und Wirklichkeit bei der Bürgerbeteiligung

Buchholz. Gerade hat in Buchholz die zweite Bürgerwerkstatt zur Stadtentwicklung stattgefunden, in der begleitenden Reihe „Buchholzer Dialoge“ hat Dr. Albrecht Göschel, Architekt und Soziologe aus Berlin, unter dem Titel „Bürgerbeteiligung zwischen Gemeinwohl und Gruppenegoismus“ dem Publikum in der Empore erläutert, welche Chancen und Risiken Bürgerbeteiligung birgt. Im Abendblatt-Interview erklärt er, wo Bürgerbeteiligung ihre Grenzen hat und warum sie gleichwohl an Bedeutung gewinnt.

Abendblatt:

Was verstehen Sie unter „Gruppenegoismus“, das klingt ja erst mal widersprüchlich?

Albrecht Göschel:

Aus begrenzten nachbarschaftlichen, lokalen Interessen werden häufig Dinge abgelehnt aus Angst, die eigene Situation könnte sich verschlechtern. Das ist bekannt als „Nimby“-Phänomen, „Not in my back-yard“ (nicht in meinem Hinterhof). Es bilden sich neue, kleine Gemeinschaften, die gegenüber der Öffentlichkeit eine Art „Selbstunterforderung“ zeigen. Das heißt, sie tendieren dazu, Interessen, die nicht unmittelbar als ihre eigenen erkennbar sind, nicht anzuerkennen. Immer wieder kann es dazu kommen, dass Minderheiten sich gegenüber Mehrheitsentscheidungen durchzusetzen suchen. Trotz solcher problematischen Seiten von Bürgerbeteiligung ist es richtig, dass sich lokale Gruppen bilden, um ins Detail gehende Auseinandersetzungen auszulösen. Solche Diskurse sind intensiver, als wenn nur im gewählten Stadtrat beraten werden würde. Lokale Gruppen sind durchaus berechtigt, solche Diskussionen in Gang zu setzen. Die Möglichkeit, Entscheidungen auf die Wahlen zu reduzieren, ist in einer gut informierten Gesellschaft nicht mehr gegeben. Es ist aber schwer zu entscheiden, wann eine Initiative Recht hat und wann sie Unrecht hat. Das kann sich nur in der Debatte herausstellen. Die fachliche Seite der Stadtentwicklung hat nicht zwingend bessere Argumente als die nichtfachliche Seite. Und Politiker repräsentieren möglicher Weise auch Partialinteressen, auch wenn sie von der Allgemeinheit gewählt sind.

Wer entscheidet überhaupt, ob es sich um einen Fall des öffentlichen Interesses handelt?

Göschel:

Das ist in der Tat schwer festzumachen, aber im Grunde ist alles, was in der Kommunalpolitik oder in der Stadtentwicklung geschieht, von öffentlichem Interesse und damit Gegenstand öffentlicher Diskussion, die von den Verfahren repräsentativer Demokratie nicht hinreichend geführt werden kann, selbst wenn Entscheidungen letzten Endes nur durch sie gefällt werden müssen. Seit den 80er-Jahren nimmt aber die Bereitschaft ab, sich diesem Verfahren zu unterwerfen.

Woher kommt das zunehmende Interesse an Bürgerbeteiligung, gab es einen konkreten Auslöser?

Göschel:

Vor allem in den 1960er- und 1970er-Jahren sind gigantische Planungsfehler passiert. Zum Beispiel, dass man sich lange auf die „autogerechte Stadt“ fokussiert hat. Die aber kann es nicht geben. Autogerechtigkeit zerstört die Stadt.

In Buchholz haben wir innerhalb weniger Monate zwei Formen der Bürgerbeteiligung kennengelernt – zum einen die Mitwirkung an Stadtentwicklungskonzepten, zum anderen den ersten Bürgerentscheid der Stadt. Welche Methode verspricht den nachhaltigeren Erfolg?

Göschel:

Ein Bürgerentscheid sollte langfristig tragen und sich nicht mit Bagatellfällen beschäftigen. Er muss für längere Zeit verbindlich sein. Bürgerbeteiligung in anderen Formen kann sich mit allen, vor allem mit kleinen Maßnahmen befassen und sollte auch nicht davon ausgehen, dass auf dieser Ebene immer Entscheidungen gefällt werden. Die sollten den gewählten Repräsentanten zukommen. Klar ist aber auch: Der Austausch von Argumenten muss irgendwann beendet sein, dann muss es zu einer Entscheidung kommen. Selbst wenn die sich im Nachhinein als falsch herausstellt.

Und Bürgerwerkstätten?

Göschel:

Die Bürger sind zwar Experten für ihre unmittelbaren Belange, sollten aber nicht gezwungen sein, wie professionelle Verwaltungen zu arbeiten, Eine Professionalität der Bürger sollte nicht vorausgesetzt und auch nicht angestrebt werden. Es ist Aufgabe der professionellen Verwaltung, die Anregungen, Vorschläge und Einwände der Bürger in eine professionelle Planung zu übersetzen. Diese Aufgabenteilung sollte man unbedingt einhalten. Politik und Verwaltung werden durch Bürgerbeteiligung gezwungen, gründlicher über ihre Planungsziele nachzudenken, nicht aber ihre Aufgaben an die Bürger abzutreten.

Aber wenn erst das Stadium der öffentlichen Auslegung erreicht ist, fühlen sich die Bürger häufig schon übergangen.

Göschel:

Mit keinem Verfahren können Politik und Verwaltung verhindern, dass einige erst aufwachen, wenn der erste Bagger kommt. Die Pläne für Stuttgart 21 haben jahrelang ausgelegen, aber erst als der Abriss des alten Bahnhofs unmittelbar bevor stand, kamen auch die Demonstranten. Ich meine aber, auch solche Konflikte müssen so ausgetragen werden, dass opponierende Bürger eine Chance haben. Die bekannten, frühen Offenlegungen von Planungen in der Planauslegung, wie sie Planverfahren vorsehen, überfordern die Bürger, die nicht das Abstraktionsvermögen eines Planers, das zum Verstehen eines möglicherweise komplexen Planwerkes erforderlich ist.

Besteht nicht die Gefahr, dass nur diejenigen zu Wort kommen, die entsprechend redegewandt sind?

Göschel:

Natürlich. Deswegen kann Bürgerbeteiligung auch keine „zweite Entscheidungsebene“ sein. In der Regel ist es nur die Mittelschicht, die sich artikuliert. Wir haben mit dem gewählten Rat aber ein repräsentatives Gremium.

Verläuft das Interesse an Bürgerbeteiligung zyklisch, nimmt es beispielsweise ab, wenn die Bürger zufriedener sind?

Göschel:

Das ist noch nicht erforscht. Das Verlangen nach Beteiligung war aber in den 70er-Jahren besonders stark ausgeprägt, in den Großstädten ist es das bis heute. Es scheint also nicht rückläufig zu sein, sondern sich auszubreiten. Frühzeitig klar zu machen, was man zu tun gedenkt, ist absolut notwendig und richtig, aber die Verwaltung muss den „Aufschlag“ machen. Zum Beispiel in Zusammenarbeit mit Quartiersvertretern – dies wurde im Konflikt um die Hamburger Hafenstraße so gemacht, aber die können erfahrungsgemäß auch nicht alles Protestpotenzial abschöpfen.

Wie sieht die Zukunft der Bürgerbeteiligung aus – findet sie gleichberechtigt neben der Arbeit der gewählten Parlamente statt?

Göschel:

Die Bürgerbeteiligung wird ein ganz normaler Vorgang werden. Es wird kaum noch Planungen geben, zu denen die Bürger sich nicht äußern. Die Bereitschaft, die Planung einer Verwaltung widerspruchslos hinzunehmen, schwindet. Das lässt sich auch nicht durch halbrepräsentative Instrumente wie Bürgerwerkstätten ausräumen. Die Gefahr ist vielmehr, dass solche Veranstaltungen zu unprofessionellen „Wunschzettelveranstaltungen“ geraten.

Also noch mehr Bürgerbeteiligung?

Göschel:

Mehr würde nicht schaden. Das ist für die Verwaltungen ein harter Job, denn sie müssen sich als Moderatoren verstehen, die einen bestimmten Weg der Vermittlung finden. Die Bürgerinitiativen müssen sich aber auch darüber im Klaren sein, dass sie nur ein Interesse unter vielen vertreten, und alle stehen unter der Wahrscheinlichkeit, sich zu irren.

Ist zu viel Bürgerbeteiligung schädlich?

Göschel:

Ich glaube nicht, dass unsere Städte unregierbar werden. Bürgerbeteiligung schließt aber zunehmend aus, dass immer die großen Lösungen gesucht werden. Sie ist eine Bewegung, die eher kleinen Lösungen den Vorzug geben könnte. Große Lösungen erhalten immer die Gefahr, dass auch große Fehler begangen werden oder große, nur schwer zu bewältigende, große Folgen entstehen. Bei vielen Planern gilt daher inzwischen das Motto „small is beautiful“. Viele kleine, immer wieder korrigierbare Einzelschritte sind häufig besser als die eine, große Lösung, die nie wieder berichtigt werden kann, wenn sie sich als verfehlt herausstellen sollte.

Lässt sich das auf die Buchholzer Ostring-Diskussion übertragen?

Göschel:

Ich kenne die Situation in Buchholz nicht gut genug, um darüber zu urteilen aber die Frage muss doch heißen, ob wir die zukünftige Entwicklung der Stadt und des Individualverkehrs wirklich gut genug prognostizieren können, um eine so gravierende Maßnahme zu realisieren. Wächst Buchholz eventuell so stark, dass die Umgehungsstraße dann irgendwann wieder im Ort liegt oder als Wachstumsgrenze wirkt? Oder reduziert sich der Autoverkehr, so dass sie überflüssig wird? Die Zukunft wird immer undurchsichtiger. Auch das ist es, was kleine Lösungen nahe legen sollte. Die Bürgerbeteiligung zwingt vernünftiger Weise zu dieser Kleinteiligkeit, auch wenn sie manchmal schwer zu realisieren ist.