Adolphsens Einsichten. Wie Muslime nach streng vorgegebenen Regeln fasten. Mit Abspecken und Diät hat das nicht zu tun

Harburg. Ich besuche das „Islamische Wissenschafts- und Bildungsinstitut“. Ich bin mit dem Direktor verabredet, Dr. Ali Özgür Özdil. Den kenne und schätze ich schon länger. Er lebt seit 40 Jahren in Hamburg. Er denkt und träumt deutsch. Das Institut befindet sich in einer alten Villa. Die Harburger Moschee nutzt das Haus mit.

Der Fastenmonat Ramadan ist unser Thema. In seinem Arbeitszimmer wartet er auf mich zusammen mit seinem Assistenten und zwei Schüler-Praktikantinnen. Ich möchte von ihm erfahren, wie er den Ramadan begeht. Der hat am 28. Juni nach Sonnenaufgang begonnen und erstreckt sich über vier Wochen bis zum 27. Juli. Nach Sonnenuntergang beginnt dann das dreitägige Fest, neben dem Opferfest das zweithöchste Fest im Islam.

Ali Özdil erklärt mir, dass diese besondere Zeit immer im 9. Monat des islamischen Mondjahres liegt. Gut 1,3 Milliarden Muslime nehmen das Fasten ernst. Auch diejenigen, die nicht gläubig sind. Mich interessiert, wie er fastet. „Ich faste nach den vorgegebenen Regeln. Mit meiner Frau und meinen vier Kindern. Am ersten Tag des Ramadan war der Frühstückstisch schon in aller Frühe gedeckt. Der achtjährige Sohn kam verschlafen ins Zimmer, er wollte nichts essen und sagte freudestrahlend: ‚Heute wollen wir doch fasten!‘ Ich hatte Mühe, ihn davon zu überzeugen, dass er erst essen und trinken müsse.“ Dann kommt er zur Sache: „Fasten hat für mich nichts zu tun mit Abspecken und Diät. Der Verzicht auf Essen und Trinken ist nicht das Entscheidende für uns. Der Verzicht hat einen tieferen Sinn.“ Ich ergänze den Satz und sage, dass es beim christlichen Fasten auch so ist. „Ja“, sagt er, „wir sollen enthaltsam sein, um unsere Sinne zu sensibilisieren. Wir fasten auch mit den Augen. So verzichte ich auf das Fernsehen und die Übertragungen der Spiele um die Weltmeisterschaft. Ich möchte mich vor Reizüberflutungen schützen. Und wir fasten auch mit der Zunge. Deswegen hüten wir uns in diesen Wochen noch bewusster vor Lügen, übler Nachrede, Verleumdungen und Beleidigungen. Es geht um die ethische Komponente des Fastens. Wir fasten auch mit den Ohren. Wir gehen zum Beten in die Moschee, beten abends vor dem Einschlafen das Abendgebet und lesen ein Kapitel aus dem Koran. In vier Wochen haben wir ihn dann ganz durchgelesen.“

Mich interessiert, welche Erfahrungen er beim Fasten macht. Der promovierte Religionswissenschaftler, der dabei ist sich zu habilitieren: „In der ersten Woche fällt die Umstellung auf andere Essenszeiten schwer. Frühstück in der Morgendämmerung und Abendessen um 22 Uhr! Daran muss sich der Körper erst gewöhnen. Aber dann spüre ich weder Hunger noch Durst. Übrigens trinke ich mehr Wasser als sonst, nachts und am frühen Morgen.“ Dann weist er auf den sozialen Aspekt des Fastens hin. „In manchen Moscheen wird zu später Stunde Essen angeboten. Umsonst. Auch für deutsche Obdachlose. Man besucht Verwandte und Freunde.“

Ich frage, ob alle Muslime fasten müssen. „Im Koran ist es geboten. Aber es gibt Ausnahmen. Kinder, Schwangere, Kranke und Reisende müssen das nicht. Wer 14 Tage unterwegs ist, sollte das Fasten nachholen.“ Und wie steht es mit den Fußballspielern aus Algerien, die ja alle Muslime sind, wie mit Özil, Khedira und Mustafi in der deutschen Nationalmannschaft? „Es gibt unterschiedliche Rechtsschulen. Aber die Lehre ist nicht so entscheidend wie die Erfahrung. Der Islam ist im Kern eine Erfahrungsreligion. Wer anstrengende körperliche Arbeit leistet, in der Hitze eines Bergwerks oder auf dem Fußballplatz, wird selbst merken, ob er dabei vielleicht kollabiert. Der darf essen und trinken. Das sagen auch die meisten Gelehrten.“ Ich weiß, dass die Spieler in der Hitze Brasiliens vier Liter Flüssigkeit pro Spiel verlieren. Wenn Sie nichts trinken, verlieren sie 80 Prozent ihrer Leistungsfähigkeit. „Für uns gibt es keine Gesetzlichkeit. Im Prinzip geht die Gesundheit vor“, bemerkt Özdil.

Am Ende unseres Gesprächs frage ich, wie er das dreitägige Fest nach dem Fasten feiert. „Am ersten Tag gehen wir früh in die Moschee zum Festgebet. Zu Hause wird gefrühstückt. Ich hole Brötchen und besorge einen Blumenstrauß für meine Frau. Die kleineren Kinder bekommen Geschenke, die größeren Geld. Es ist wie Weihnachten bei euch. An diesen Festtagen sind Besuche angesagt. Die Jüngeren besuchen die Älteren. Wir ehren das Alter.“

Beim Abschied führt er mich in die Bibliothek und zeigt mir viele Kartons mit Unterrichtsmaterial für Lehrer. Er zieht einen Karton heraus mit der Aufschrift „Islam und Terrorismus“. Darin liegt nur ein Blatt Papier. Fettgedruckt steht da „Dieser Kasten ist leer.“ Ali Özdil sagt: „Terrorismus gibt es weder im Koran noch im Islam.“

Helge Adolphsen ist emeritierter Hauptpastor des Hamburger Michel