Merkwürdige Postzustellung: Ein interessierter Kunde fragte nach. Und erhält die Antwort: „Hier läuft ein Experiment“

Eißendorf. Die Rickelstraße hat eine schöne Lage im Beerental, eine Kurve, einen Anstieg, gut 100 Häuser und zwei Postboten. Das verwundert Anwohner Jürgen Herbst: „Auf der anderen Straßenseite kommt die Post meistens morgens mit einem Postboten und bei uns kommt sie mit einem anderen Postboten, meistens mittags. Und auch das Paket mit den Sonderangebotsbroschüren kommt hier und drüben an unterschiedlichen Tagen. Dabei ist es doch wichtig, gleich zu wissen, wo in der nächsten Woche die Sonderangebote sind. Ich finde das seltsam“, sagt er.

Und weil ihn das verwundert, ging er fragen. Jürgen Herbst sprach den Briefträger der gegenüber liegenden Straßenseite an, warum dieser denn nur die eine Seite bearbeite und die andere nicht. Die Antwort erstaunte ihn: „Das ist Postgeheimnis, sagte der Briefträger“, erinnert sich Herbst, „und als ich nicht locker ließ, meinte der Mann, dass die Post auf meiner Seite ein Experiment durchführt, mit dem neue Zustellmethoden ausprobiert werden sollen. Er wisse da aber nichts genaues.“

Auch die Post weiß nichts von einem Zustellexperiment. „Da hat sich wohl jemand eine kreative Antwort einfallen lassen“, sagt Post-Pressesprecher Jens-Uwe Hogardt. Straßen mit mehr als einem Zusteller seien keine Ausnahme, fügt er hinzu. „Die Zustellbereiche werden mit einem Computerprogramm nach vielen verschiedenen Faktoren berechnet, unter anderem Sendungsaufkommen, Länge der Zustellwege und Siedlungssstruktur. Das Programm berechnet auch die ideale Reihenfolge der Zustellung auf jeder Tour. So kann es durchaus vorkommen, dass in derselben Straße der eine Zusteller seine Tour beginnt und der andere sie beendet.“

Die Daten für das „IT-gestützte Bemessungs- und Informationssystem“, kurz IBIS, werden ständig gepflegt. Jede Tour ist in etwa 50 Abschnitte unterteilt, zwei dieser Abschnitte muss der Zusteller jeden Tag dokumentieren. Welche, bestimmt der Zufall. Mit IBIS werden die Touren ständig neu berechnet, um die Zustell-Lasten gleichmäßig auf die Postboten zu verteilen und Ausfälle so kompensieren zu können, dass nicht wenige viel vertreten, sondern alle etwas mehr machen. Auch die wöchentliche Belastung durch das Verteilen der „Einkauf-aktuell“-Broschürenpakete soll IBIS so mit einberechnen, dass die Postboten im Wochenschnitt mit der vertraglichen Arbeitszeit auskommen. Die Zusteller müssen sich ihre Touren nicht mehr selbst zusammenstellen, sondern andere Mitarbeiter der Post erledigen das für sie, nach den Vorgaben von IBIS. So soll trotz der in den letzten Jahren ausgedünnten Personaldecke die Arbeitslast reibungslos und ohne große Zumutungen für die Mitarbeiter bewältigt werden können.

Das ist jedenfalls die Theorie. „In der Praxis haben wir da sehr unterschiedliche Rückmeldungen“, sagt Jan Jurczyk, Pressesprecher der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, die einen Großteil der Postzusteller vertritt. „Das variiert von Briefzentrum zu Briefzentrum.“

Der Grund dafür sei, dass die Leiter dieser Zentren in der klassischen Falle des mittleren Managements steckten, so Jurczyk: „Von oben kommt der Druck, mit dem berechneten Personalstand auszukommen und in der Umsetzung ergeben sich Hindernisse. Damit gehen die einzelnen Manager sehr individuell um. Bei den meisten klappt es gut, da ist dieses System auch eine Hilfe. Bei anderen häufen sich die Beschwerden und die Krankenstände steigen. Damit wachsen die Probleme weiter.“

Ob das Harburger Verteilzentrum zu den problematischen gehört, konnte Jurczyk nicht sagen. Wenn er Daten hätte, hätte er sie ohnehin von den Betriebsräten der Zentren und ob die mit den Krankenständen ihrer Standorte hausieren gehen dürfen ist rechtlich sehr umstritten.

Die Post hatte ab der Jahrtausendwende den Zustellbetrieb noch einmal radikal durchrationalisiert. Man ging davon aus, dass das Briefaufkommen stark sinken würde. „Das trifft aber nur auf die privaten Briefe wirklich zu“, sagt Jurczyk. „Die Werbepost über Infobriefe ist allerdings stark angewachsen und gleicht das Volumen aus – nur verdient die Post weniger daran.“

Jürgen Herbst ist egal, wieviel ein Brief der Post bringt. Hauptsache, die Post bringt ihn.