Das Winsener Ensemble L’Art pour L’Art lädt wieder auf den Dachboden des alten Forsthauses

Winsen. Moderne Musik ist gefährlich. Selbst das Tier bleibt nicht verschont. In diesem Fall erwischt es den gemeinen Birkhahn, der in die brenzlige Situation geraten könnte, gegen die Scheibe zu knallen, weil Avantgardisten ihn in die Falle locken. Wo er doch vertrautes Terrain vermutet. So wie manche Konzertgänger eher Mozart wollen und Neutöner kriegen. Heute Abend könnte es anders kommen. In einem verwunschenen Forsthaus wird die Welt der Musik auf den Kopf gestellt: Der Hang zum Natürlichen könnte das Birkhuhn auf die Kunst-Fährte führen. Während der Mensch mit tierischem Vergnügen zeitgenössischen Klängen lauscht.

Schauplatz des Geschehens: Winsen. Aufklärerische Whistletöner enthüllen hier, welche Macht moderne Musik haben kann. Wie sie angreift und in Frage stellt – den Kunstbetrieb, die Zuhörer und das Verhältnis zur Kreatur. Das Ensemble L’art pour L’art schafft das. Es hat im Forsthaus Quartier bezogen und bringt Zeitgenössisches ins Fachwerk aus dem Jahre 1880.

Schon der Name des Ensembles ist eine Provokation. Kunst um der Kunst willen. Das ist politisch ganz und gar nicht korrekt. Und so herrlich abwegig ist auch die Musik, die im ersten Moment gar nicht als solche zu erkennen ist. Schon gar nicht für das Birkhuhn, das sich heute zufällig in der Nähe des Forsthauses befinden und Lockrufe vernehmen sollte. Und das gleich von sieben hinter den Fensterscheiben balzenden Hähnen. Das kann nicht sein. Und ist auch nicht so. Der Klang trügt.

Verantwortlich für diese Irritation ist ein Septett für Birkhahn-Locker, komponiert von Robin Hoffmann, der noch andere schöne Stücke geschrieben hat. Wie wär es mit „Der Unsichtbare“ für Klavier solo oder dem Bratschen-Sextett „Das geliehene Ohr.“

Das verirrte und dann verwirrte Birkhuhn hätte es – wenn es wirklich auf dem Konzertsaal-Dachboden des Forsthauses landen sollte – mit der musikalischen Studie „Locken“ zu tun. In der Besetzung für sieben Menschen, die jeweils in einen Birkhahnlocker blasen.

Das Tier fühlte sich getäuscht. Der Mensch dagegen ist erwartungsfroh. „Die Leute wissen, was sie kriegen“, sagt Astrid Schmeling. „Und sie wollen das. Je exzentrischer umso besser.“ Die Flötistin gehört zu den Gründungsmitgliedern des Ensembles, das seit rund 30 Jahren das Publikum auf Abwege führt und Bach und Co Komponisten wie Robin Hoffmann entgegenstellt. Der ist den meisten genauso unbekannt, wie Benjamin Schweitzer, von dem heute „Landscape With Deserted House“ zu erleben ist. Oder wie der Japaner Jo Kondo, der mit seinem Stück „An Insular Style“ das Motto des Abends liefert.

Das Lebensgefühl auf dem Lande, auf der Insel – in Töne umgesetzt. Das klingt beschwingt. Aber leichte Kost schmeckt anders. Auch den Musikern. „Wir haben wie die Verrückten geübt“, sagt Astrid Schmeling, die von Haus aus Flötistin ist, nun aber auch den Birkhahn-Locker betätigt. Das im Internet angepriesene Gerät kostet 6,46 Euro und war im Laden in Winsen ausverkauft. Schmeling: „Ich musste nachbestellen.“ Es verspricht natürliche, bestechende Rufe vom Birkhahn, so der Werbetext. Es funktioniere durch leichtes Hineintuten perfekt auf kurze Entfernungen. Durch festes Hineintuten dann wohl auf weite Entfernungen. „So sollte es problemlos möglich sein, einen Birkhahn von nah oder fern heranzulocken.“ Nur, wofür?

Da es sich um den Hubertus Birkhahnlocker handelt, ist das waidmännische Anliegen klar: Den Vogel locken. Anlegen, Peng. Knall. Das Forsthaus scheint daher als Spielort für das Birkhahn-Locker-Septett ideal zu sein. Ist es auch. Weil hier eines der renommiertesten Ensembles für zeitgenössische Musik im Norden zu Hause ist. So einfach das Blasgerät, so kompliziert die Partitur. Das kann nicht jeder.

Tonhöhen gibt es nicht. Stattdessen Zeichen, wann die Hand auf- und wann sie zugehen muss, um den Naturklang zu erzeugen und variieren. Und rhythmisch geht es munter mit den unmöglichsten Taktarten gegeneinander.

„Ich kann auch wirklich nicht helfen“, sagt Michael Schröder, wie er da zwei Wochen vor der Aufführung mit seinen Ensemble-Kollegen arbeitet und versucht, „diesen ganz Unsinn“, zu dirigieren. „Kannst Du ja auch sonst nicht“, kommt die Antwort. Die Stimmung ist bestens. Die Herausforderung groß. Ob jemand hört, wenn es falsch ist? Es rauscht und raschelt im Dachboden. Die Musiker sind hoch konzentriert. Und plötzlich ein Klang, als wenn ein Schwarm Birkhähne durchzieht.

Mit Anlegen, Peng und Knall hat das nichts zu tun. Das Zuhören verwirrt und lockt zugleich ein Lächeln aufs Gesicht. Die Musik hat Humor – und stellt Fragen. Genauso wie der Komponist. „Wer lockt hier eigentlich wen? Ist’s der Jäger, wie er den Birkhahn vor die Flinte lockt? Oder ist es der Weidmann, der just dem großen Rufe der Natur gefolgt?“ Soweit lässt sich folgen. Aber dann das: „Nur ein munteres Birkhahn-Biotop im Konzertsaal. Zugegeben, die Tiere sind nicht allzu heil gelandet. Doch den Viechern geht’s ganz gut. Man braucht nicht viel, um sich unter Gleichgesinnten wohl zu fühlen – etwas Rausch-Klangfarbe reicht.“

Das ist schwere Kost – oder vielleicht doch eher ein Abenteuer. Geht es um die Brutalität des Menschen, der Natur oder um die zweifelhafte Funktion von Musik? Die Besucher wollen es jedenfalls wissen – bei der Konzertreihe „Zuhören in Winsen“. Und es kommen viele, manchmal mehr als 100. Die zusammengewürfelten Sessel und Sofas, die auf dem Dachboden rote Plüschsessel eines artigen Konzertbetriebes ersetzen, sind begehrt. Und die Leute kriegen, was sie haben wollen – und werden dabei nicht alleingelassen. Bevor es durch den Dachboden rauscht, gibt es eine Einführung. Nur der Birkhahn wird es nicht hören und bei einem möglichen Ausflug in den Konzertbetrieb die Welt nicht mehr verstehen.

Das Konzert im Forsthaus in Winsen (Lüneburger Straße 220) beginnt um 20. 30 Uhr. Ein Diskurs geht ab 19 Uhr voraus. Eintritt: 16 und 12 Euro. Am Donnerstag, 3. Juli 201, 20 Uhr, ist das Programm im NDR-Landesfunkhaus Niedersachsen zu erleben.