Von der „wilden Quecke“ zur gefragten Bildungseinrichtung: Rudolf-Steiner-Schule Nordheide wird 30 Jahre alt

Kakenstorf. Gegen etliche Widerstände von den Behörden musste sie sich durchsetzen, sie wurde belächelt oder mit Vorurteilen belegt – doch heute, da immer mehr Eltern das staatliche Schulsystem anzweifeln, hat die Rudolf-Steiner-Schule Nordheide längst ihren Platz und ihre Akzeptanz gefunden. In diesem Jahr feiert die Schule in Kakenstorf ihr 30-jähriges Bestehen.

„Eine ‚wilde Quecke‘ haben sie uns genannt“, erinnert sich Wolfhild Lindenbeck, eine der Gründungslehrerinnen (und inzwischen Ruheständlerin). Die Schule hatte vom Landkreis sogar Gründungsverbot erhalten, „aber wir haben das trotzdem gemacht“. Im Dorf waren sie sich der Unterstützung jedenfalls sicher. „Bürgermeister Walter Westphal hat uns Glück gewünscht“, erinnert sie sich. Dass die Schule in Kakenstorf gelandet ist, lag daran, dass hier das passende Gebäude gefunden worden war, ein ehemaliges Landschulheim. Das musste zunächst für den Schulbetrieb komplett umgebaut werden. Deswegen fand die Gründungsfeier am 29. September 1984 – und später noch ein Teil des Unterrichts – auch im Zelt statt. Und dass die Schule überhaupt gegründet wurde, lag an der großen Nachfrage im Landkreis Harburg. Die Rudolf-Steiner-Schule in Hausbruch war nicht mehr in der Lage, alle Landkreis-Schüler aufzunehmen.

Treibende Kraft für die Neugründung war auch die Lehrerin Liesel Gienapp, die aus ihrer Heimat Herne das Konzept der handwerklichen Ausbildung parallel zum Schulunterricht mitbrachte. Handwerkskurse gehörten denn auch in Kakenstorf von Anfang an dazu. Doch auch die Eltern mussten sich bald handwerklich betätigen: Nach dem Start mit 90 Schülern, zunächst in jahrgangsübergreifenden Klassen in den Stufen 1 bis 5, reichte der Platz bald nicht mehr aus, weil immer mehr Schüler nachrückten. Ein neues Gebäude wurde mit viel Eigenleistung errichtet, die Finanzierung bei der gemeinnützigen GLS-Bank über Bürgschaften der Lehrer und Eltern gesichert. Es folgten ein weiterer Anbau, das Bewegungshaus (2004) und vor wenigen Wochen die Schmiede.

Heute hat die Schule 370 Schüler in den Klassenstufen 1 bis 13, ein Kindergarten gehört von Anfang an dazu, seit kurzem auch eine Krippe und seit elf Jahren der sonderpädagogische Elias-Schulzweig in Wistedt. Weiter wachsen soll die Schule nicht, sie ist einzügig ausgerichtet. Mehr Klassen hieße auch: Mehr Lehrer, mehr Räume. Das würde das Budget der Privatschule dann doch sprengen.

Teilweise existieren daher Wartelisten. „Wir haben auch viele Quereinsteiger, also Kinder, die zum Beispiel nach der Grundschule zu uns kommen“, sagt Anke Tödter. Sie ist offiziell Schulsekretärin, in Wahrheit aber diejenige, bei der alle Fäden zusammenlaufen, quasi Betriebsleiterin. Einen klassischen Schuldirektor gibt es nämlich nicht, sondern einen geschäftsführenden Vorstand.

Nicht der einzige Unterschied zu einer staatlichen Schule. Vor allem der Unterricht ist komplett anders konzipiert. Deswegen lernen die Schüler nicht weniger – ein oft gehörtes Vorurteil –, da die Rudolf-Steiner-Schule genau wie jede staatliche Schule an die Vorgaben der Schulbehörde und des Kultusministeriums gebunden ist. Sämtliche Abschlüsse von Hauptschule über mittlere Reife bis zum Abitur können hier erworben werden. „Unsere Abschlüsse waren immer gleichwertig“, betont Brigitte Köhling, die in der Buchhaltung und Verwaltung der Schule tätig ist. Jedoch lernen die Schüler hier in „Epochen“, das heißt, es gibt inhaltliche Schwerpunkte, die sich über mehrere Wochen hinziehen. So wird zum Beispiel der Musik- und Kunstunterricht auf die Inhalte abgestimmt, die gerade in Deutsch oder Mathe an der Reihe sind. Die Schüler führen währenddessen ein „Epochenheft“, in das nicht nur Aufzeichnungen, sondern zum Beispiel auch Bilder, Fotos oder auch mal gepresste Blätter Einzug finden.

Die Unterrichtsstunden haben eine „Aufwärmphase“ mit Singen, Bewegungsspielen, Rhythmusübungen, Gedichtaufsagen und nach getaner Arbeit eine Ausklangphase, in der zum Beispiel vorgelesen wird. Weil in Gruppenarbeit das soziale Miteinander gefördert wird, die Starken den Schwachen helfen, Eigenverantwortung gelehrt wird, sind die Waldorfschüler gerade in Handwerksbetrieben gern gesehene Praktikanten. „Wir erhalten positive Rückmeldungen, weil unsere Schüler so zuverlässig und offen sind“, sagt Anke Tödter. Nicht zuletzt wird gerade das Handwerkliche besonders gefördert: ob Schneidern, Kochen und Backen, Holz- und Metallarbeiten oder Gärtnern – alles steht im Laufe der Schulzeit auf dem Stundenplan.

Verlockend aus Schülersicht dürfte auch sein, dass zum Curriculum auch praktische Übungen und Exkursionen zu Land- und Forstwirtschaft, Geologie, Vermessungstechnik, Segelschein sowie themenbezogene Klassenreisen und Sprachreisen gehören. Gelehrt werden Englisch und Russisch, „das brauchen Sie, wenn Sie Astronaut werden wollen“, sagt Franziska Roßner aus der Elternschaft. Auch Musik und Theater gehören dazu, die erarbeiteten Werke werden in Schulaufführungen gezeigt. Und ja, das berühmte „Namen tanzen“, also Eurhythmie, gibt es auch. „Das ist eine Bewegungslehre, die die Selbst- und Fremdwahrnehmung schult, das Selbstbewusstsein stärkt“, erklärt Anke Tödter. „Es leitet dazu an, sich zu bewegen, ohne sich dafür schämen zu müssen“, ergänzt Franziska Roßner. Schulnoten gibt es bis zur 10. Klasse nicht, stattdessen „Entwicklungsberichte“ über die Lernleistung, aber auch die persönliche Entfaltung, mit Empfehlungen für die Schüler.

Den Schülern Geborgenheit zu vermitteln ist ein erklärtes Ziel. Der Zusammenhalt geht so weit, dass die Schüler auch nach dem Abschluss in Kontakt bleiben, „und immer wieder bilden sich Paare“, sagt Anke Tödter. Sie räumt aber auch ein, dass es manchmal Kinder gibt, die sich dort nicht wohlfühlen – manche brauchen doch die konventionellen Strukturen. Ein wenig paradox erscheint auch, dass der Gründer dieser Schulform, Rudolf Steiner, sich eigentlich an Arbeiterkinder wenden wollte, um ihnen umfassende Bildung zu ermöglichen. Weil aber die Eltern heute für den Schulbesuch ihrer Kinder zahlen, sind es oft die Gutsituierten, die ihre Kinder dorthin schicken. „Man kann aber bei der Beitragskommission einen Ermäßigungsantrag stellen“, sagt Brigitte Köhling. Und es wird erwartet, dass die Eltern sich auch aktiv einbringen: bei den „Bausamstagen“, bei denen auf dem Schulgelände Reparatur- und Aufräumarbeiten ausgeführt werden.

Auch die Veranstaltungen stehen im Zeichen des Jubiläums. Sommerfest: Sonnabend, 5. Juli, Info-Abend für Quereinsteiger: Montag, 29. September, „Die Waldorfschule stellt sich vor“: Montag, 20. Oktober, Martinsmarkt: Sonnabend, 15. November, Schulkonzert: Freitag/Sonnabend, 28./29. November. Der Termin für das Schauspiel der Klasse 12 steht noch nicht fest.