Mitarbeiter der Diakoniestation in Tostedt schlagen Alarm. Sie fordern ein Rettungspaket für die Pflege

Tostedt. Für Ute Mansfeld erinnert der Satz, der in einem Bilderrahmen zu lesen ist, an eine längst vergangene Zeit. „Da sein, nah sein, Mensch sein“ steht da an der Flurwand der Diakoniestation Tostedt. Ein Ideal, mit dem die 52-Jährige vor 23 Jahren in die Altenpflege eingestiegen ist. Ein Leitsatz, den sie leben konnte. Jetzt hat sie das Gefühl, nur noch hinterher zu rennen. „Die Zeit, jedem Bewohner gerecht zu werden, habe ich nicht“, sagt sie. Sie arbeitet nicht mehr wie ein Mensch, sondern wie eine Maschine.

Die Menschen werden immer älter und so steigt die Zahl derer mit Pflegebedarf stark an. Experten gehen davon aus, dass sich die Zahl der Pflegebedürftigen in Niedersachsen bis 2020 um 20,6 Prozent auf 320.000 erhöht.

Zugleich fehlen die Fachkräfte, die sich um sie kümmern. Kaum jemand ist noch bereit in der Altenpflege zu arbeiten. Ein Knochenjob für zu wenig Geld und Anerkennung. Nach Angaben des statistischen Landesamtes waren im vergangenen Jahr knapp 600 Stellen für Pflegefachkräfte unbesetzt.

Die meisten Schulabsolventen haben längst begriffen, dass die Bilder vom Pfleger und Heimbewohner im Glück, was Alten- und Seniorenheime gerne auf ihren Werbeprospekten transportieren, nicht viel mit dem Arbeitsalltag zu tun haben.

Jetzt schlägt die Diakonie Alarm. Sie fordert heute von der Bundesregierung zum internationalen Tag der Pflege ein Rettungspaket. Auch die Mitarbeiter der Diakoniestation in Tostedt wollen heute auf die kritische Situation in der Pflege aufmerksam machen, indem sie Hunderte Karten mit Forderungen und Wünschen symbolisch an den Samtgemeindebürgermeister Dirk Bostelmann als Vertreter der Politik vor Ort übergeben. Anschließend sollen die Karten an das Bundesgesundheitsministerium in Berlin geschickt werden.

Trotz des Notstands in ihrer Branche hat Ute Mansfeld ihren eigenen Weg gefunden, um den Menschen das Altern in Würde zu ermöglichen. Sie gestaltet die knappe halbe Stunde, die ihr am Morgen pro Bewohner für die Pflege bleibt, so intensiv wie irgend möglich. „So, wie jeder Einzelne es braucht“, sagt sie. „Ich passe mich an wie ein Chamäleon.“

Heinz Randmann* ist einer, der vor allem Humor braucht. Als sie in das Zimmer des 76-Jährigen tritt, weiß er nicht, was Ute Mansfeld schon hinter sich hat. Dass sie wenige Minuten zuvor Anna Konrad* die in einem Schwächeanfall auf ihren Gehwagen zusammensackte, versorgt hat. Dass sie die 87-Jährige aufgemuntert, ihre Beine hoch gelegt, ihre Kollegin beruhigt und dann Anna Konrad in den Rollstuhl gesetzt hat. Ein turbulenter Moment, mehrere Pfleger eilten herbei. Doch diesen Stress darf sie nicht mit zu Heinz Randmann ins Zimmer schleppen.

Denn jetzt ist er die Hauptperson. Jetzt braucht er sie, ihre gute Laune, ihre Schlagfertigkeit. Während sie ihm den Schlafanzug auszieht, ihn wäscht und eincremt, die Windel umlegt, das Bett frisch bezieht, die Handtücher auswechselt, Pullover, Socken, Jeans und Schuhe anzieht, macht sie Scherze. Die Frau mit den weißen kurzen Haaren ist flink. Sie beherrscht es fast bis zur Perfektion, mehrere Sachen zugleich zu erledigen. Der Mann ist zufrieden. „Wenn ich hier eines Tages herauskomme, kriegen sie einen Orden“, sagt er, bevor sie sein Zimmer verlässt.

Ute Mansfeld hat sich daran gewöhnt zu lachen, auch wenn ihr nicht danach zumute ist. Auf ihrer täglichen „Rennstrecke“ von den Zimmern zum Frühstücktisch, zum Wintergarten und zurück baut sie die alten Menschen auf, verteilt warme Worte, steckt kalte Hände unter Bettdecken und bindet Schuhe zu. Auch die Kollegen müssen bei Laune gehalten werden. Ute Mansfeld ist die einzige Pflegefachkraft aus dem Team. Die vier weiteren Kollegen, mit denen sie zusammen 33 Bewohner versorgt, sind Auszubildende und Pflegehelfer, die hin und wieder Hilfe brauchen. „Ute, kommst Du mal?", fragen sie. Ute kommt und hilft beim Anziehen, beim Hochheben. „Alles gut?“ ist ihr Mantra. Das fragt sie die Bewohner genauso wie ihre Kollegen.

Vielleicht hat das auch dazu beigetragen, dass sich Jessica Klasing dafür entschieden hat, mit ihren 42 Jahren eine Ausbildung in der Diakoniestation zu beginnen. „Der Beruf ist perfekt für mich“, sagt sie, die eigentlich nur für wenige Wochen ein Praktikum in dem Tostedter Heim absolvieren wollte. Daraus sind inzwischen neun Monate geworden. „Solche Leute brauchen wir“, sagt Ute Mansfeld.

Sie zu bekommen, ist nicht einfach. Das Dilemma in der Pflege geht inzwischen so weit, dass die Diakonie in Tostedt Mühe hat, ihre Ausbildungsplätze zu besetzen. Und die Gefahr ist groß, dass die Lehrlinge wieder abspringen. Erst kürzlich haben Auszubildende gegenüber dem Diakonie-Chef Peter Johannsen beklagt, dass sie fürchten, den Ansprüchen nicht gerecht werden zu können. Ein Alarmsignal und das schon im ersten Ausbildungsjahr.

Es bereitet ihm Sorgen, dass die Mitarbeiter ihre Pausen opfern, um ihr Arbeitspensum schaffen zu können. „Die Pausen zu nehmen, heißt meistens, dass sie Bewohner mit ihren Bedürfnissen sitzen lassen müssen. Das erzeugt enormen Druck“, so Johannsen. Kein Wunder, dass die Altenpfleger bundesweit nach durchschnittlich sechs bis acht Jahren der Branche den Rücken kehren.

Der Geschäftsführer der Diakonie in Tostedt fordert daher einen besseren Personalschlüssel und einen verlässlichen Tariflohn für alle Beschäftigten in der Pflege, egal ob sie bei einem Wohlfahrtsverband beschäftigt sind oder bei einem privaten Träger. Die Diakonie zahlt einer examinierten Vollzeitkraft brutto 2760 Euro. Das machen aber längst nicht alle Einrichtungen. Mit einer einheitlichen Vergütung und mehr Personal könne die Branche endlich ihren schlechten Ruf abstreifen und mehr Fachkräfte für sich gewinnen, glaubt Johannsen.

Allein vor der enormen physischen Belastung schrecken viele zurück. Um die Senioren und sich selbst so gut es geht körperlich zu entlasten, hat Ute Mansfeld ihre ganz eigene Technik entwickelt. „Umarmen sie mich mal. Das brauche ich jetzt“, sagt sie, als sie Ulrike Manzan*, 86, aus dem Bett holen und in den Rollstuhl bugsieren möchte. Es funktioniert. Der Frau ist eigentlich gar nicht nach Aufstehen zumute, doch sie schlingt Ute Mansfeld die Arme um den Hals.

„Entweder die Altenpfleger haben Rücken oder Burnout“, sagt die Pflegefachkraft. Das Wort Zeitdruck hat in einem Seniorenheim eine ganz andere Dimension. Die kleinste Änderung kann alles aus dem Takt bringen.

Zudem steht noch aus, jeden einzelnen Schritt niederzuschreiben. Dazu zählt auch, wie viel die Bewohner getrunken und gegessen haben. „Alles was nicht dokumentiert ist, gilt als nicht gemacht“, sagt Ute Mansfeld.

Das erzeugt zusätzlichen Druck. Ihr Chef Peter Johannsen will die Dokumentation nicht verurteilen. „Sie hat viele notwendige Aspekte, aber ich halte sie für überzogen“, sagt er. Protokoll und Plan bestimmen die Arbeit: Bezugsgruppenplan, Übergabeprotokoll, Kontinenztrainings-Plan, Bewegungsprotokoll. Nach dem Frühstück sitzt Ute Mansfeld am Computer und trägt Werte und Beobachtungen ein. Sie investiert ähnlich viel Zeit in Tagesprotokolle wie in die Pflege. Und so verstreichen wertvolle Minuten, in denen sie nicht für die alten Menschen da sein kann. Nach 23 Jahren in der Pflege hat sie das Gefühl, die Bewohner mehr zu verwalten als zu betreuen. „Mir bleiben nicht einmal ein paar Minuten, um mich mal mit den alten Menschen zu unterhalten“, sagt sie.

*Namen geändert