Günter Tisson und Claus Günther mussten vor 70 Jahren in der Kinderlandverschickung die Harburger Schule verlassen

Harburg. Dies ist die Geschichte von zwei Freunden. Von Günter Tisson und Claus Günther, einem ehemaligen Oberstleutnant der US-Armee in Texas und einem gelernten Schriftsetzer, Werbefachmann und Autor. Beide sind heute über 80 und haben sich nie ganz aus den Augen verloren. „Wir haben damals voneinander Kameradschaft und Verlässlichkeit gelernt und wir haben gemeinsam gespürt, wie es ist, von den Eltern getrennt zu sein“, sagt Tisson. An diesem Nachmittag sitzen die beiden an einem Tisch vor dem Gasthuus am Schwarzenberg und erinnern sich. An ihre Schulzeit in der ehemaligen Oberschule für Jungen, dem heutigen Friedrich-Ebert-Gymnasium und daran, wie sie wegen der Bomben der Alliierten aufs Land geschickt wurden. An diesem Tag ist wieder Frühjahr 1944, Tisson und Günther sitzen in der Klasse nebeneinander. Sie sind wieder 12 und 13.

Es gehört zu den ersten deutlichen Zeichen für den Zusammenbruch des Dritten Reiches, dass ihre Schule zum 1. Mai geschlossen wird. Nur: Die beiden Schüler, die die zweite Klasse der Oberschule (heute: 6. Klasse) besuchen, sehen das noch nicht so. Sie sind mit der Nazi-Ideologie aufgewachsen, ihnen haben die Lehrer schon in ihrem ersten Lesebuch die Aufmärsche und Veranstaltungen der Reichsführung als etwas Besonderes vermittelt. Sie gehen mit ihrer ganzen Schule, mit Lehrpersonal und älteren Schülern, die Hitlerjugend-Führer sind, nach Mährisch-Weißkirchen (heute: Hranice in Tschechien). „Wir haben dort relativ unbeschwert gelebt, haben Kräuter für Tee gesammelt, Hausaufgaben gemacht, sind geschwommen und durften Fahrtenmesser tragen“, sagt Günther. Sie sind auf der Schwelle zu Jugendlichen, müssen sich aber Ohrfeigen gefallen lassen.

Im November 1944 werden die beiden Jungen zum ersten Mal getrennt. Tissons Eltern können ihren Sohn nach Lüneburg zurück holen, das als sicher gilt. Günther bleibt zurück. Als die Russen immer näher rücken, geht es für Günther nach Jaromer, später in ein Kloster in der Nähe von Straubing. „Wir waren empört, als die Mönche die Weiße Fahne hissten“, erinnert er sich. Erst im August kommt er nach Hamburg zurück, weil es keinen Bus für die Schüler gibt und die Bahngleise zerstört sind.

Tisson und Günther treffen sich in der Schule wieder. In Weißkirchen sind sie in die 7. Klasse gekommen. Nun gibt es erst nach und nach neue Lehrbücher und – neue Lehrer. Solche, die sich nicht zuvor von den Nazis einfangen ließen. Beide machen die Mittlere Reife und gehen dann ab.

Beide beginnen eine Lehre. Günther, der eigentlich Journalist werden möchte wird Schriftsetzer und Druckerei-Kaufmann. Tisson geht ins Tempowerk und wird gleich nach seinem Abschluss als Industriekaufmann über Tarif bezahlt. Das jedoch hält ihn nach seiner Hochzeit mit Ursula, die in Würzburg ausgebombt wurde, nicht davon ab, in die USA zu gehen. Tausende Kilometer liegen nun zwischen den Freuden. Doch das ändert sich. Denn Tisson zieht es zur Armee.

Mehrmals kommt er in Uniform nach Deutschland zurück. Nach Aschaffenburg, in eine Panzerkaserne in Böblingen. Günther sucht den Kontakt, schreibt an Tissons Einheiten und schließlich, als er Jahre später im Urlaub auf Hawaii ist, eine Postkarte. Tisson meldet sich und der Kontakt reißt nicht mehr ab. Bei einem Klassentreffen sehen sie sich wieder. Da ist Tisson, heute 82, schon pensioniert. Er war zuvor ein Jahr als Major in Vietnam und nach dem Ende der Kämpfe in Korea. Er lebt heute in St. Antonio, Texas.

Günther dagegen, heute 83 und Organisator des Treffens im Gasthuus, wohnt heute in der Kieler Straße in Hamburg und hat nach zuletzt 20 Jahren bei Otto angefangen zu schreiben. Er hat sich in der Fuß-Reflexzonen- und Klangschalen-Massage ausbilden lassen, hat Gedichte und mehrere Bücher geschrieben, zum Teil auf Platt. Jetzt plant er ein Buch über die Erziehung in der Nazizeit, das er im kommenden Jahr fertig schreiben will. Er ist einer von rund 20 Zeitzeugen, die in Hamburg Schulen besuchen und sich den Fragen der jungen Menschen stellen, die sich nicht mehr vorstellen können, was die Nazizeit bedeutete und wie man sich gefühlt hat als verschicktes Kind. In 200 Klassen sind sie schon gewesen.

Die Historie aufarbeiten wollen auch Klaus Barnick, der eine Ausstellung „Die Zerstörung Hamburgs 1944“ plant und Klaus Möller von der Initiative Gedenken in Harburg. Er sieht in der Kinderlandverschickung ein Thema, das bisher zu wenig aufgearbeitet wurde. Auf ihrer Suche nach Material und Zeitzeugen kamen auch sie nach einem Abendblatt-Artikel zu dem Treffen auf dem Schwarzenberg. Für Günther und Tisson war der Nachmittag ein guter Anlass für ein Treffen. „Wenn ich nach Deutschland komme, sehen wir uns immer“, sagt der pensionierte Oberstleutnant. „Wir sind Freunde. Wenn wir uns sehen, lebt die Schulzeit auf.“ Eine Zeit, die sie geprägt und die sie miteinander verbunden hat. Schon mehr als 70 Jahre lang und über den Atlantik hinweg.