Insel-Guide Jörg v. Prondzinski zeigt Touristen die schönsten Angsträume Wilhelmsburgs – eine neue Radtour mit überraschenden Perspektiven

Wilhelmsburg. Warum eigentlich beschleicht Menschen in der Hochhaussiedlung Kirchdorf-Süd ein ungutes Gefühl? Und warum sollten einem die begrünten Erderhebungen am Pullhorner Hauptdeich Sorgen machen? Solche Fragen beantwortet der Insel-Guide Jörg v. Prondzinski, wenn er mit dem Fahrrad zu den schönsten Angsträumen Wilhelmsburgs führt. Am Sonnabend hatte die alternative Stadtteiltour des Freizeithauses Kirchdorf-Süd Premiere.

20 Männer und Frauen wollen den prächtigen sonnigen Tag damit verbringen, die Abseiten von Wilhelmsburg zu entdecken. Die ungewöhnliche Touristentour mit dem provozierenden Titel weckt offenbar die Neugier. Stadtplaner nennen Angsträume solche Orte, an denen Menschen die Furcht beschleicht, sie könnten ein Opfer von Kriminalität werden.

Kann ein Angstraum schön sein? Jörg v. Prondzinski nimmt seine Gäste mit nach Kirchdorf. Nirgendwo ist Wilhelmsburg deutscher. Vorbei an Eigenheimen und Gärten geht es zu dem ehemaligen Küsterhaus und der Kreuzkirche. „Das ist ja wie im Dorf“, sagt ein Angstraumsucher erstaunt. Hier im Dorf stehe auch die letzte Hochburg der deutschen Gastronomie, wie der Insel-Guide behauptet, der Gasthof Sohre.

Wovor sich die Menschen in dieser Idylle fürchten, ist schnell ausgemacht: Um den Kiosk „Die Klappe“ haben sich einige Männer versammelt. Die Bierflaschen so gierig tief im Rachen, dass sie im Schlund zu verschwinden drohen. „Die Semi-Randständigen beunruhigen die anderen“, erklärt Jörg v. Prondzinski, um gleichzeitig zu versichern, dass die Menschen ganz harmlos seien. Tatsächlich geht von der Gruppe am Kiosk kein Laut aus. Die Angstraum-Touristen lernen ihre erste Lektion: Manchmal entstehen Wahrnehmungen, die objektiv nicht nachvollziehbar sind.

Der Stadtteilführer setzt auf den Kulturschock: Nur wenige hundert Meter aus dem deutschen Dorf hinaus macht die Fahrradgruppe in Kirchdorf-Süd halt. Die Hochhaussiedlung hat einen schlechten Ruf. Jörg v. Prondzinski, auf der Elbinsel geboren, kennt die Klischees, halbwahren und wahren Geschichten der Siedlung. Etwa die, dass irgendwelche Irren Pferden auf der benachbarten Koppel die Augen ausgestochen haben sollen.

Tatsache ist: In den Eingängen zu den Hochhäusern sitzen Pförtner in Logen. Das Wohnungsbauunternehmen SAGA hat auf diese Weise gegen gefühlte Angst angearbeitet. Keine Normalität ist, dass die Hochbahn-Busse die Siedlung abends im sogenannten Haustürservice anfährt: Viele Stopps vor den Eingängen, damit die Menschen möglichst kurze Wege haben.

„Was macht das hier mit euch?“, will Jörg v. Prondzinski wissen und lenkt den Blick hinauf zu der weißen Hochhausburg. Er macht keinen Hehl daraus, dass Kirchdorf-Süd seiner Meinung nach zu Unrecht in Verruf geraten sei und setzt auf den Selbsterfahrungseffekt bei seinen Gästen. Die Sonne strahlt, die Vögel in den Bäumen zwitschern. Angst will da nicht aufkommen.

Obwohl die Fahrt an einem Friedhof vorbeiführt, will auf dem Deich in Richtung Finkenriek erst Recht kein beklemmendes Gefühl aufkommen. Hier zeigt sich, wie herrlich grün Wilhelmsburg ist. Aber Achtung! warnt der Insel-Guide. Ohne Deiche würde die Elbinsel zweimal am Tag unter Wasser stehen. Ganz Wilhelmsburg sei eigentlich ein Angstraum.

Viele Neubürger wüssten um die Bedeutung der Deiche nicht mehr, sagt Jörg v. Prondzinski. Der Spreehafen entwickelt sich zu seinem ganz persönlichen Angstraum, weil er seiner Meinung nach zu einer Event-Meile verkomme. „Die Leute trampeln auf dem Deich herum, dass ist unverantwortbar“, plädiert der Biologe gegen Partyzonen auf dem Deich.

Die grünen Erhebungen entlang des Pullhorner Hauptdeiches sind eigentlich Balsam für das Auge entlang der tristen Lkw-Strecke. „Sie sind sind Sondermülldeponien“, macht der Insel-Guide das Grün schlagartig zum Angstraum. In seiner Kindheit hätten sich hier Wilhelmsburger ihre Kugelschreiber geholt, wenn dort eine Ladung hingekippt worden sei.

Als „geilsten Angstraum der Tour“ kündigt Jörg v. Prondzinski die S-Bahnbrücke über der Süderelbe an und führt seine Gäste unter die dunkle Unterführung. Das Trommelfell wackelt, wenn die S-Bahnzüge mit lautem Getöse über den Köpfen hinwegrasen. Viele Szenen für Fernsehkrimis, „Tatort“ oder „Bella Block“, seien hier gedreht worden, weil die Szenerie so herrlich düster sei.

Absurd erscheint, dass das Gitter um das Gelände der längst beendeten Internationalen Gartenschau immer noch das Wohnquartier „Hamburger Terrassen“ durchschneidet und einzäunt. „Hier ist eine gated community entstanden“, sagt Jörg v. Prondzinksi. So heißen Wohnformen von Wohlhabenden, die sich aus Angst abschotten.

Ein Termin für eine zweite Tour zu den schönsten Angsträumen Wilhelmsburgs steht noch nicht fest. Auch wenn sie bei 3 Stunden und 50 Minuten viel Sitzfleisch im Sattel erfordert, sollte jeder Angst haben, sie zu verpassen.