Literaturkritiker Hellmuth Karasek gibt am Friedrich-Ebert-Gymnasium in Heimfeld eine Deutschstunde

Heimfeld. Wie auf einer Flugreise schiebt er einen silberfarbenen Trolley vor sich her, als der wohl zurzeit bedeutendste Literaturkritiker Deutschlands den Musiksaal des Friedrich-Ebert-Gymnasiums in Heimfeld betritt: Hellmuth Karasek gibt rund 70 Schülern des 11. Jahrgangs eine Deutschstunde. Sein „Bordgepäck“ besteht ausschließlich aus Büchern, Literatur zu dem deutschsprachigen Schriftsteller Franz Kafka (1883 - 1924). Der 80 Jahre alte Experte ist mindestens so gut vorbereitet, wie die meist 16 Jahre alten Jugendlichen, die Kafkas Roman „Der Verschollene“ in den Wochen zuvor gelesen und im Unterricht besprochen haben.

Auch wenn der ausgezeichnete Alltagsbeobachter Hellmuth Karasek zurzeit mit seinem Buch „Soll das ein Witz sein?“ als Satiriker Karriere macht, spricht er zu den Schülern als Literaturwissenschaftler. Die Gymnasiasten bekommen auf diese Weise ein Gefühl dafür, was Universität bedeuten wird. Deutschlehrer Jürgen Denzel ist begeistert. Karasek habe von sich aus abgelehnt, Promotion für sein Buch zu machen. Lieber wolle er mit den Schülern den aktuellen Unterrichtsstoff besprechen. „Hellmuth Karasek spricht als Literaturwissenschaftler zu unseren Schülern und nicht als Komiker. Das finde ich fantastisch“, sagt Jürgen Denzel.

Das Friedrich-Ebert-Gymnasium steht neben einem exzellenten mathematisch-naturwissenschaftlichen Schwerpunkt auch für den humanistischen Bildungszweig in der Harburger Schullandschaft. Da kommt dem Ebert-Gymnasium der bekannte Literaturkritiker, Autor und Journalist gerade recht, um für die Literatur die Fahne hoch zu halten. Er sei der prominenteste Gast, den die Schule je hatte, sagt Jürgen Denzel stolz bei der Begrüßung. Und immerhin hatte schon der frühere Fußball-Nationalspieler Arne Friedrich ein Gastspiel gegeben.

„Er ist aus persönlicher Überzeugung zu uns gekommen“, sagt Schulleiter Volker Kuntze. Ein Honorar verlangt Hellmuth Karasek nicht. Den Kontakt knüpfte eine Lehrerin der Schule. Sie ist eine Nachbarin, lebt in demselben Haus in Harvestehude wie Hellmuth Karasek.

Da sitzt er nun leicht erhöht auf einem hölzernen Podest im Musiksaal: Der einzige Mensch, der Marcel Reich-Ranicki in der ZDF-Sendung „Das Literarische Quartett“ widersprechen durfte und konnte, ist in seinem zart-rosafarbenem Hemd und den Sportschuhen, „Chucks“ ohne Schnürsenkel, mit den Schülern modisch auf einer Ebene. „Sie können Einwände machen, wenn Sie Kafka anders verstanden haben als ich“, bittet Hellmuth Karasek die Jungen und Mädchen zum Dialog.

Ob es nicht problematisch sei, den Schriftsteller Franz Kafka immer nur in Bezug auf seine Biografie zu interpretieren, wagt sich eine Schülerin kritisch hervor. Nein, entgegnet Karasek, das gesamte Wert Kafkas sei autobiografisch. Kafkas Ich sei so allgemein, dass sich ganze Generationen in ihm wiedererkennen.

Was die schlechtesten Textstellen in dem Roman „Der Verschollene“ seien, fordert eine andere Schülerin gewitzt den Literaturkritiker heraus. Doch Karasek lässt keinen Zweifel aufkommen, dass der zu Lebzeiten weithin verkannte Schriftsteller Franz Kafka zu Recht zur Pflichtlektüre an den Schulen Europas zählt: „Kafka hat keine schlechten Stellen“, sagt Karasek, „seine Texte sind in sich makellos.“ Und der Literaturkritiker gesteht: Für ihn persönlich sei Kafka bedeutender als Thomas Mann.

Hellmuth Karasek wirkt sympathisch, wie in Millionen Menschen aus den Fernsehen erkennen, wenn er pointiert und schelmisch eine nicht zu widersprechende Logik entwickelt. Er schätze die zwanghafte Logik bei Kafka, sagt er. Die Schüler sind hoch konzentriert. In den 90 Minuten Unterricht nimmt der wortgewandte Gastlehrer nicht einen Schluck Wasser aus dem Glas, das verlockend vor ihm steht. Der Professor, Karasek hat in Tübingen Germanistik, Geschichte und Anglistik studiert, erhebt sich nicht über seine Schüler. Vielleicht eifert er Kafka nach, von dem Karasek sagt, er sei ein Mensch mit feinen, empfindlichen Antennen gewesen.

Die 90 Minuten Unterricht gehen viel zu schnell vorbei. Hellmuth Karasek bleibt keine Zeit zu beweisen, dass Kafkas Werk auch Komik innewohnt. Das weit verbreitete Bild Kafkas ist das eines düsteren Schriftstellers. Das könnte die Chance auf eine Rückkehr Karaseks nach Heimfeld sein.

Unglücklich ist am Ende, dass den Schülern keine Zeit bleibt, ein paar persönliche Worte mit dem prominenten Gast zu sprechen. Sie müssen direkt im Anschluss eine Mathematik-Klausur schreiben. „Kafka war ein relativ schlechter Mathematiker“, ruft Hellmuth Karasek ihnen irgendwie Trost spendend nach. Das Ende der Deutschstunde bedeutet nicht das Ende seines Besuchs in Harburg: Mit Schulleiter Volker Kuntze geht er noch im Restaurant „Leuchtturm“ essen, um sich mit ihm über die Bedeutung der Literatur an der Schule auszutauschen.