Die Geschichtswerkstatt hat das 69 Jahre lange Kapitel der Straßenbahn aufgearbeitet. Spektakulärer Film aufgetaucht

Harburg. Die Bahn nach Harburg werde so außerordentlich viel benutzt, dass die wenigen Wagen, die laufen können, immer voll besetzt seien. Der Satz könnte heute ohne Weiteres als Beschreibung einer S-Bahnfahrt der Linie S3 im Berufsverkehr zwischen Harburg und dem Hamburger Hauptbahnhof durchgehen. Tatsächlich ist er 112 Jahre alt. Damals hatte ein Reporter der Tageszeitung „Hamburgischer Correspondent“ diese Beobachtung aufgeschrieben – drei Wochen nach der ersten Straßenbahnfahrt zwischen der Freien und Hansestadt Hamburg und der preußischen Stadt Harburg am 24. Mai 1902.

Jetzt haben Klaus Barnick, 68, und Joachim Hillmer, 63, die Geschichte der Straßenbahn in Harburg zu einem Vortrag mit bewegten Bildern zusammengefasst. Die beiden Mitglieder der Geschichtswerkstatt Harburg haben sich dazu auch auf Spurensuche nach Überbleibseln der Straßenbahn im Stadtbild gemacht. Die Idee entstand, nachdem jemand in der Geschichstwerkstatt am Kanalplatz eine DVD mit dem mehrfach kopierten Film über die letzte Straßenbahnfahrt in Harburg vom 23. Mai 1971 abgegeben hatte, der in einem sechs Minuten langen Ausschnitt im Internet zu sehen ist. Damals hatte Ernst Voss in 72 Einstellungen und insgesamt 15 Minuten den Weg der Straßenbahnlinie 12 gefilmt. Premiere hatte der Vortrag vor Kurzem beim Haus- und Grundbesitzerverein Harburg-Wilhelmsburg, der seinen Mitgliedern bei der Jahreshauptversammlung Infotainment bieten wollte.

Die mehr als zwei Stunden lange Fahrt von der Station Mittelweg in Hamburg-Rotherbaum bis zur Endstation in Wilstorf im Mai 1902, damals hatte der Schaffner noch Abgabebillets zum Passieren der preußischen Grenze dabei, war nicht die Premiere der Straßenbahn in Harburg. Bereits zwei Monate vorher fuhr die Linie 32 vom Harburger Hauptbahnhof in der Hannoverschen Straße bis nach Bostelbek.

Die Straßenbahn sei Anfang des 20. Jahrhunderts so beliebt gewesen, sagt Klaus Barnick, dass sie auch die Heimfelder haben wollten. Sie seien sogar bereit gewesen, privat zusätzliche Kosten zu übernehmen, sollte die Linie defizitär sein. Die Linie 34 zwischen dem Harburger Hauptbahnhof und Heimfeld wurde im Jahr 1907 eingerichtet, zunächst bis zum Lokal „Waldschlößchen“, später bis zur Straße „Goldene Wiege“. In der 69 Jahre langen Geschichte der Straßenbahn in Harburg seien die Linien öfter umnummiert worden, sagt Klaus Barnick. Die Linie über den Sand nach Wilstorf trug zuletzt die Nummer 12, bei vielen Harburgern sei sie aber stets als die „33“ in den Köpfen geblieben.

Joachim Hillmer, gebürtiger Harburger und Vorstandsmitglied der Geschichtwerkstatt, ist selbst regelmäßig mit der Linie 33 gefahren. Als Kind besuchte er Anfang der 1960er-Jahre das Alexander-von-Humboldt-Gymnasium. Sitze und Lehnen seien aus Holz gewesen – ohne Polsterung, erinnert er sich. Und im Winter sei die Heizung so „knallheiß“ gewesen, dass die Fahrgäste aufpassen mussten, um sich nicht an den Füßen am Heizrohr unter dem Sitz zu verbrennen.

An den Haltestellen gab es Sandkästen. Streusand wurde unter anderem eingesetzt, damit Straßenbahnen die teilweise nicht unerheblichen Steigungen in Harburg bewältigen konnten. Um 1930 war die Schwarzenbergstraße – damals hieß sie noch 1. Bergstraße – mit 17,6 Prozent Steigung der steilste Streckenabschnitt im gesamten Netz der Hamburger Hochbahn. Offenbar war der Sand aber auch für die Bremstechnik nützlich, hat Klaus Barnick herausgefunden.

In den engen Straßen Harburgs nahm die Straßenbahn Kurven, die heute als abenteuerlich gelten würden. „Es war ein Heidenlärm, wenn die Bahn um die Ecke fuhr“, hat Joachim Hillmer noch heute das kreischende Geräusch im Ohr. Unfälle waren nicht selten. Am spektakulärsten war wohl, als Feuerwehr und Polizei im Jahr 1930 einen Straßenbahnwagen aus dem Wäschegeschäft Max Stein bergen mussten. Die Straßenbahn war an der Ecke Bremer Straße/Wilstorfer Straße (heute: Lüneburger Straße) aus der Kurve geraten und geradeaus in das Schaufenster gekracht. Erstaunlicherweise soll niemand verletzt worden sein.

Die autofreundliche Stadt galt als Vision der 60er- und 70er Jahre

Mitte der 1950er-Jahre hatte der Hamburger Senat Pläne, den Straßenbahnbetrieb in den folgenden 20 Jahren einzustellen. Damals galt die autofreundliche Stadt als die Vision für die Zukunft. Politiker und Stadtplaner sahen den dieselbetriebenen Bus im Vorteil. Ein wichtiges Argument sei gewesen, dass Busse nicht auf Oberleitungen angewiesen sind und überall hin fahren können, sagt Joachim Hillmer. Das im Stadtbild hässlich wirkende Gewirr von tief hängenden Masten und Oberleitungen für Straßenbahnen und Obusse galt als weiteres Argument gegen den elektrifizierten Nahverkehr.

Die Straßenbahnlinie 44 nach Appenbüttel wurde 1954 eingestellt, die Linie 42 nach Heimfeld drei Jahre später. Zum letzten Mal fuhr eine Straßenbahn am 23. Mai 1971 in Harburg. Wie sehr die Menschen die Straßenbahn liebten, zeigt, dass Tausende die Strecke säumten. Auch die letzte Fahrt der Straßenbahn in Hamburg zwischen dem Rathausmarkt und Schnelsen im Oktober 1978 glich einer Trauerfeier.

Einige Spuren im Harburger Stadtbild erinnern noch heute an die Straßenbahn: Klaus Barnick weist auf die Straßenbahnhaken hin, die heute noch an dem Neubau der Alten Post (heute ein Ärztezentrum) in der Harburger Rathausstraße oder über der Eisdiele in der Neuen Straße hängen. Die Haken dienten früher zur Befestigung der Oberleitungen, heute sind sie eine historische Gebäudedekoration, deren ursprüngliche Funktion beinahe vergessen ist. Tiefe, längst von der Natur zurückeroberte Spuren im Wald am Wasserturm in Heimfeld gehen auf die frühere Straßenbahnkehre zurück.

Möglicherweise erlebt die Straßenbahn in Hamburg ein Comeback. Die CDU sieht offenbar in der Verkehrspolitik ein wichtiges Wahlkampftthema und macht sich für eine Stadtbahnlinie stark. Die CDU schlägt drei Linien mit einer Gesamtlänge von 93,4 Kilometern vor: von Schnelsen Burgwedel bis auf die Veddel, vom Elbe-Einkaufszentrum bis Rahlstedt und vom Volkspark bis Wandsbek. Die Grünen streben einen dritten Anlauf zur Einführung der Stadtbahn in Hamburg an, sollten sie wieder in Regierungsverantwortung kommen.

In vielen europäischen Metropolen fahren Straßenbahnen. In Barcelona bringt die Stadtbahn die Badegäste an den Stadtstrand. Joachim Hillmer hat die Stadtbahn in Basel erlebt und sagt: „Das ist Sightseeing pur.“