Die Kulturwerkstatt feiert 30. Geburtstag. Die Umnutzung alter Industrieanlagen für Feingeistiges hat im Bezirk Tradition

Harburg. Nicht jede kulturelle Einrichtung schafft das. Wobei: Einige „klassische“ Einrichtungen haben auch deutlich längere Halbwertzeiten (Helms-Museum seit 1902, Harburger Theater seit 1894). Was sich aber in den 1980er-Jahren aus den Nachwehen der sozialen Bewegungen der Jahre davor institutionalisiert hat, ist erstens überschaubar und zweitens – parallel zur Veränderung der Gesellschaft – einem deutlicheren Wandel unterworfen gewesen als die schon genannten klassischen Kultureinrichtungen.

Der Aufbruch seit 1968 ging auch an dem Arbeiter- und Industriestadtteil Harburg nicht spurlos vorüber. Hier waren es neue Selbstverständnisse in der Frauen-Emanzipation, der Arbeiterbewegung, der Migration und auch dem bürgerlichen Spektrum, die jeweils ihre Findungsphasen hatten. Dazu gesellte sich – wie überall in Deutschland – die Technikgläubigkeit und die wirtschaftliche Prosperität, die eine bauliche Umsetzung der neuen Moderne ermöglichten.

Harburg bekam die S-Bahn – sie wurde 1984 nach zehn Jahren Bauzeit eröffnet – damit auch den Harburger Ring, die Seehafenbrücke und die Stadtautobahn, das „SUBA-Center“ (heute Marktkauf) und andere bauliche Errungenschaften dieser Zeit. Gleichzeitig bemühte man sich, das Gesicht der Stadt zu verändern, nämlich zum Wohnen im Grünen – auf jeden Fall weg vom Industriestadt-Image. Damit einher gingen auch eine Abnabelung der Stadt vom hafenindustriellen Teil durch die Schließung des Bahnübergangs in den Binnenhafen und der Verlust von sehr viel, damals als hässlich empfundener, alter Gebäudesubstanz.

Viele Menschen sind auf der Suche nach neuen Lebensformen

Es ist die Zeit des Kalten Krieges. Die westdeutsche Friedensbewegung hat ihre Hochzeit 1983 in der Menschenkette von mehr als einer Million Akteuren. Positionierung nach außen, Suche nach neuen Lebensformen: aufs Land ziehen oder Hausbesetzung. Bewusstmachung des eigenen Handelns für die Gesellschaft.

Die Frauenbewegung findet sich in Harburg mit der Gründung des Vereins „Frauenkulturhaus“. Aus Gewerkschafter-Kreisen wird der Verein „Arbeiterkultur“ ins Leben gerufen, der sich Jahre später in „Kulturwerkstatt“ umbenennt, um das Spektrum zu erweitern.

Von der Stadt gefördert und gewollt, wird der Rieckhof als Veranstaltungszentrum gebaut und eröffnet 1984. Darin gehen viele Aktivitäten aus der Jugendszene des Freizeitzentrums Nöldekestraße auf.

In den Neunzigern startet erneut eine Gründerwelle der bürgerlichen Kultur: 1994 wird der Harburger Kunstpfad eingerichtet. Der Kunstverein Harburger Bahnhof geht im Jahr 1999 an den Start. Dazu gesellt sich später die Ansiedlung der Kunstsammlung von Harald Falckenberg in den aus der Nutzung gefallenen Phoenix-Werksgebäuden. Die Umnutzung brachgefallener Industrieanlagen ist eine Entwicklung, die in Harburg vielfach möglich war und weiterhin sein wird, gerade wegen des örtlichen Reichtums an interessanten Industriegebäuden. Der Künstler Klaus Elle nutzte über Jahre Räume im Bundesbahn-Ausbesserungswerk als Atelier. Auch der Jazzclub im Stellwerk, eröffnet 2005, nutzt mit dem ehemaligen Lehrstellwerk im Bahnhof einen solchen Ort um. Ebenso die Kulturwerkstatt Harburg: Sie zieht 2006 in das Kontorhaus der über lange Zeit größten Harburger Spedition „Renck und Hessenmüller“.

Harburg ist seit der Industrialisierung eine Einwanderer-Stadt – eine Entwicklung, die sich bis heute fortsetzt. Nicht zu übersehen sind die Sammlungsbewegungen der Migranten, die in der Gründung von einem guten Dutzend Kulturvereinen und sieben Moscheen im Bezirk Harburg münden.

Verdammt viel Gutes in Harburg, aber nur wenige merken es

Schließlich bemühen sich einzelne Gastronomen, ihr Lokal durch kulturelle Aktivitäten zu bereichern: Die vielen Konzerte und Sessions im Consortium sind legendär, die Tröte, die Hexe, das „Irish Pub und einige andere.

Erkennbar ist bei alledem, dass die einzelnen Interessen und Strömungen sehr ausdifferenziert ihren Ort, ihre Institution bilden. Über Jahre, fast Jahrzehnte, agieren die Einrichtungen mit hervorragenden Inhalten mehr oder weniger erfolgreich nebeneinander mit dem Ergebnis: Es gibt verdammt viel Gutes in Harburg, aber so wenige Menschen spüren das oder wissen davon, weil das Angebot so zersplittert ist.

Mit dem 1. Harburger Binnenhafenfest „Leinen Los“ im Juni 2000 versucht die Kulturwerkstatt erstmals, nicht nur selbst etwas auf die Beine zu stellen, sondern andere Institutionen zu integrieren, indem diese mit Infoständen oder Mitmach-Angeboten auf dem Fest präsent sind. Dies geschieht in einem „vergessenen“ Stadtteil, der sich wandelt vom ungeliebten Industriestandort zur wieder ans Wasser heranwachsenden Innenstadt. Hier hat Harburg eine Chance, ein Wir-Gefühl zu entwickeln. Dass die Idee aufgeht, zeigt die Tatsache, dass mit dem 14. Fest in diesem Jahr die Anzahl der Akteure größer denn je ist, und die Besucherzahl die 100.000 überschritten hat.

Was noch fehlt, ist eine wohlwollende Sammlung, Koordination und Übersicht aller guten Aktivitäten, Angebote und Möglichkeiten. Es gibt Ansätze: Im Bezirk wird www.harburg-aktiv.de bestückt, allerdings ist dort die Kultur nur ein kleiner Teil. www.sued-kultur.de ist eine Initiative, die wertvoll ist, weil sie auf einen lockeren, übergreifenden Verbund setzt. Bei der Kommunikation aber ist Harburg noch weit vom Optimum entfernt. Bis heute gibt es kein lebendiges „Harburg-Forum“ im Internet, die Ansätze dazu sind eingeschlafen, auch wegen geringer Nutzung.

Wir-Gefühl und positive Identität sind Themen, die im Vorfeld des vom Bezirksamt gestalteten Beteiligungsprozesses „Harburg neu denken“ diskutiert gehört hätten, als Basis für die zu entwickelnden Ideen. Diese Chance wurde leider verpasst. Aber diese Elemente sollten wir im Hintergrund behalten, um gemeinsam daran zu bauen. Dazu gehört die Sammlung, Vernetzung, Verzahnung und Präsentation der kulturellen Aktivitäten, damit dieser einzigartige Stadtteil auch als der Besondere wahrgenommen, der er ist.