Manfred Hüllen wurde als Kind von einem Priester missbraucht. Heute ermutigt er Opfer, über ihre Erlebnisse zu sprechen

Regesbostel. An jenem Tag vor vier Jahren, als Manfred Hüllen die Zeitung aufschlug und den Bericht über einen Mann las, der in einer katholischen Einrichtung sexuell missbraucht wurde und erst nach Jahrzehnten sein Schweigen brach, verlor der lebenslustige Rheinländer den Halt. Schlagartig. „Auf einmal war die Büchse der Pandora auf, die ich jahrelang so gut es ging verschlossen gehalten hatte“, erzählt er. Der Chef der Hollenstedter SPD konnte nur allzu gut nachfühlen, was dem Mann aus der Zeitung widerfahren war. „Ich weiß, was das heißt. Ich bin selbst ein Opfer. In meiner Kirche wohnte der Teufel. “

Über das zu sprechen, was ihm vor 68 Jahren passiert ist, fällt Manfred Hüllen schwer. Immer wieder ringt der 74-Jährige um Fassung, sucht nach den richtigen Worten. „Es ist, als wäre da nach all der Zeit noch immer ein großer schwerer Bleideckel drauf, der sich einfach nicht bewegen will“, sagt er. „Dabei ist kaum ein Tag seither vergangen, an dem mich nicht irgendetwas, irgendeine Kleinigkeit an die Vorfälle in der Kirche St. Bruno erinnert hat.“ Damals besuchte er die Volksschule „Golzheimer Heide“ im Düsseldorfer Stadtteil Unterrath. Als er 1946 in die zweite Klasse versetzt wurde, begann er mit der Ausbildung zum Messdiener. Drei Monate lang besuchte er dafür nach der Schule den Unterricht in der Kirche St. Bruno. In dieser Zeit verging sich ein Priester insgesamt fünf Mal an ihm.

„Eines Tages bat mich der Priester nach dem Unterricht auf ihn zu warten. Er sagte, er wolle mit noch etwas mitgeben. Also ging er mit mir in einen angrenzenden Raum. Auf einem Tisch standen mehrere braune Tüten. Es waren Tüten mit Mehl“, erzählt Manfred Hüllen. Eine davon könne er mitnehmen, avisierte der Priester seinem Schutzbefohlenen. „Ich sollte nur ein lieber Junge sein“, sagte Hüllen. Dann habe der Priester ihm in die Hose gegriffen, seine eigene geöffnet, um zu onanieren. „Ich war wie betäubt und ließ diese Dinge geschehen. Wenn ich niemandem davon erzählen würde, dann könnte ich von ihm ab sofort immer etwas bekommen“, erinnert sich der Regesbosteler. Auf dem Weg nach Hause habe er beschlossen, seiner Mutter alles zu beichten, sagt Manfred Hüllen. „Aber als sie die Tüte mit Mehl sah, war sie überglücklich und sagte, wie gut es doch sei, dass ich Messdiener werden wollte. Also schwieg ich.“ Danach wurden die sexuellen Übergriffe von Mal zu Mal intensiver. Manfred Hüllen musste den Priester mit den Händen befriedigen, während sich dieser dabei an seinem Opfer verging. Mal gab es dafür Mehl, mal Geld, mal Flaschen mit Öl, mal Bananen oder Bohnenkaffee. Seine Mutter habe nie gefragt, wofür er diese Sache bekommen habe.

„Ein paar Wochen später war dann plötzlich ein neuer Priester da. Uns wurde mitgeteilt, dass mein Peiniger ins Mutterhaus nach Süddeutschland zurückgekehrt sei. Heute denke ich, dass die Kirche vielleicht einen Hinweis bekommen hat und das Problem so aus der Welt geschafft hat“, sagt Manfred Hüllen. Für ihn endete damit das wochenlange Martyrium – und mit dem Umzug seiner Familie die Ausbildung zum Messdiener.

Doch die seelischen Narben blieben. Er litt unter Schlafstörungen, wurde depressiv. „Es ging mir oft sehr schlecht. Insgeheim habe ich so manches Mal nach einem geeigneten Baum Ausschau gehalten“, sagt Manfred Hüllen. Sex mit Frauen war zwar möglich, verkam aber bis zu seinem 25. Lebensjahr zu einem emotionslosen Akt, den er sich für Geld erkaufte. „Meine Seele blieb dabei immer außen vor. Als ich dann zum ersten Mal Liebe zu einem anderen Menschen in mir hatte, konnte ich mich der Person lange Zeit nicht nähern. Ich wollte die Liebe für sie nicht durch Sex aufs Spiel setzen.“

Die Gründe dafür erfuhr auch seine Ehefrau Irene erst vor vier Jahren. „Ich bin am Frühstückstisch über der Zeitung regelrecht zusammengebrochen“, erzählt Manfred Hüllen. Stundenlange Gespräche mit seiner Partnerin folgten. „Ihr fiel es damals wie Schuppen von den Augen. Endlich gab es eine Erklärung für mein sonderbares Verhalten zu Beginn unserer Beziehung“, sagt der gelernte Betriebsschlosser. Seine Frau habe ihn schließlich bestärkt, die katholische Kirche über die Vorfälle zu informieren. Mittlerweile hat das Bistum Hamburg das Opfer finanziell entschädigt - eine späte Anerkennung des Leids, das ihm als Opfer sexuellen Missbrauchs zugefügt wurde. „Mit meiner Geschichte möchte ich jetzt andere Menschen ermutigen, über ihre Erlebnisse zu sprechen. Einfach ist das nicht. Aber Wegschweigen und totschämen macht es nur noch schlimmer. Das weiß ich heute.“

Um eine offene Kommunikation zwischen Eltern, Betroffenen und Experten anzuschieben, hat Manfred Hüllen für die SPD Hollenstedt einen Vortragsabend organisiert. Am Donnerstag, 27. März, referiert die Psychologin Katarina von Renteln von 19.30 Uhr an im Gemeindehaus der Hollenstedter Kirche zum Thema „Kinder stärken, Kinder schützen“. Persönliche Einladungen sind bereits an alle Einrichtungen verschickt, die mit Kindern arbeiten und für sie Sorge tragen. Der Eintritt zur Veranstaltung ist frei.