Lehrer und Schüler sind sauer: Um die Forderung des Kultusministeriums zu erfüllen, streichen die Gymnasien im Kreis Ausflüge und Elternabende

Hittfeld. Ein Brief an die Eltern der Schüler des Gymnasiums Hittfeld sorgt in diesen Tagen für Aufregung. Darin bitten der Schulleiter Stefan Weinreich und das Kollegium um Verständnis für schmerzhafte Streichungen von Angeboten und Aktivitäten. Alle Veranstaltungen, die im Lehrplan festgelegt sind, dazu gehören auch Klassenfahrten und Exkursionen, bleiben unangetastet, alle Aktivitäten, die die Lehrer den Kindern darüber hinaus anbieten, kommen auf den Prüfstand und werden voraussichtlich nicht länger bestehen.

Die Ankündigung ist so etwas wie eine Verzweiflungstat, denn die Streichungen sind eine Reaktion auf den Haushaltsentwurf, den der niedersächsischen Landtag Ende des vergangenen Jahres mit ganz knapper Mehrheit verabschiedet hat. Vor allem im Kultusetat gibt es neue Schwerpunkte. Für den Ausbau von Bildungsprojekten sind 420 Millionen Euro eingeplant, davon investiert das Land allein 260 Millionen Euro für den weiteren Ausbau und die Ausstattung der Ganztagsschulen. Finanziert wird das Ganze auch durch Umschichtungen, von denen vor allem die Gymnasien betroffen sind.

Die bekommen nicht nur weniger Finanzmittel, zusätzlich sollen die Pädagogen an Gymnasien ab dem kommenden Schuljahr 24,5 Stunden pro Woche unterrichten – eine Stunde mehr als bisher. Bundesweit haben nach Daten der Kultusministerkonferenz die niedersächsischen Gymnasiallehrer die geringsten Arbeitszeiten. So unterrichten Lehrer beispielsweise in Sachsen und Bremen 26 Stunden pro Woche, in Mecklenburg-Vorpommern sind es sogar 27 Stunden. Dank Bildungshoheit der Bundesländer wird es in der Republik überall unterschiedlich gehandhabt. Hinzu kommt, dass auch der Mehraufwand, den anspruchsvolle oder zeitintensive Unterrichtsfächer mit sich bringen, ganz unterschiedlich mit einer Arbeitszeitentlastung vergütet werden. So wird ein Lehrer im Saarland, der mehr als acht Stunden pro Woche in der Oberstufe unterrichtet, um eine Stunde entlastet, in Niedersachsen macht man da keine Unterschiede.

Um die Arbeitsbelastung in den letzten Jahren vor der Pension etwas zu entschärfen, haben viele Lehrer seit 1998 mehr gearbeitet und diese Stunden auf einem Arbeitszeitkonto gutschreiben lassen. Die SPD-Regierung in Hannover versprach damals, dass die Pädagogen dadurch ab dem 55. Lebensjahr eine Stunde weniger, ab 60 dann zwei Stunden weniger arbeiten müssten. Doch davon will die jetzige Kultusministerin Frauke Heiligenstadt nichts mehr wissen. Sie gesteht Lehrern ab 60 nur noch eine Stunde Altersteilzeit zu. Alle angesparten Überstunden will sie ersatzlos streichen. „Damit hat Frau Heiligenstadt ein gegebenes Versprechen gebrochen“, empört sich Stefan Weinreich.

Im Hinblick auf die Forderung nach einer Stunde mehr Unterricht, fühlt sich die Lehrerschaft an den Gymnasien unverstanden. Denn ihr Job umfasst weitaus mehr, als nur bis zur Mittagspause Wissen in die Köpfe der Schüler zu füllen. Stundenvorbereitung, Korrektur von Klassenarbeiten, Abiturbegleitung, Elterngespräche, AGs und Verwaltungsaufgaben machen mehr als 40 Prozent der Arbeitszeit aus. „Studien zeigen, dass Vollzeitlehrer zwischen 30 und 70 Stunden pro Woche arbeiten“, schätzt die Frankfurter Bildungsforscherin Mareike Kunter. Das hänge unter anderem von der Schulform, vom Fach und der Erfahrung des Lehrers ab. In den vergangenen zehn Jahren sind außerdem zahlreiche neue Aufgaben hinzugekommen. Leistungen der Schüler müssen dokumentiert, Leitlinien entworfen und Schulberichte geschrieben werden. Zwar hätten Lehrer etwa ein Viertel des Jahres keinen Unterricht, aber deswegen nicht durchgehend frei. In den Ferien finden Konferenzen oder Fortbildungen statt. Dazu gibt es sogenannte Präsenztage, an denen Lehrer in der Schule anwesend sein müssen.

Außerdem sind die Pädagogen nicht nur bei der Vermittlung von Wissen gefordert. Obwohl es zum Beispiel in Hittfeld zwei Beratungslehrerinnen gibt, sind sie bei rund 1100 Schülern schlichtweg überfordert. „Unsere Lehrer beschäftigen sich im Unterricht nicht nur mit dem Stoff, sondern müssen sich auch immer stärker mit Erziehung und Defiziten beim sozialen Verhalten der Kinder auseinandersetzen“, erläutert Stefan Weinreich.

Was die Änderungen aus dem Kultusministerium angeht, fühlen sich Weinreich und seine Kollegen von den Gymnasien aus Meckelfeld, Buchholz und Tostedt jetzt im Zugzwang. „Keiner sagt, wo die Stunde mehr Unterricht herkommen soll“, moniert Uwe Neumann, Direktor des Gymnasiums Tostedt. Die einzige Möglichkeit, ihre Lehrer zu entlasten, sehen die Schulleiter in der Reduzierung von Serviceleistungen. Konkret heißt das, dass die Zahl der Elternsprechtage eingeschränkt wird. Angebote, die nicht für den Unterricht relevant sind und die nachmittags an der Schule stattfinden, wie Ausflüge, Theaterbesuche und Klassenreisen, müssen zurückgefahren werden. Dies betrifft nicht schon gebuchte Veranstaltungen, sondern wird erst nach den Sommerferien im neuen Schuljahr relevant.

„Natürlich machen wir weiterhin Exkursionen und die Abifahrten. Auch die langjährigen erfolgreichen Projekte wie den Mathewettbewerb und Jugend forscht werden wir fortsetzen“, verspricht der Hittfelder Schulleiter Weinreich. Er sieht auch eine Option darin, weniger Arbeiten in den Hauptfächern schreiben zu lassen, um die Lehrer von den zeitaufwendigen Korrekturen zu entlasten.

Die starke Gewichtung der finanziellen Zuwendungen zugunsten der Gesamtschulen betrachtet er mit Sorge. Schließlich befinden sich die Schulen, die den begehrten Abschluss mit Abitur anbieten, in Konkurrenz zueinander. Eine viel modernere und bessere Ausstattung in den neu gebauten Ganztagsschulen zieht seiner Meinung nach viele Schüler von den Gymnasien ab.

Deshalb steht er dem neusten Coup von Kultusministerin Frauke Heiligenstadt ausnahmsweise mal positiv gegenüber. Die hatte vor ein paar Tagen verkündet, in Niedersachsen wieder zum G9 zurückzukehren und die Schüler statt 12 wieder 13 Jahre bis zum Abitur zu unterrichten. Weinreich glaubt, dass dies den Schülern mehr Zeit gibt – zum Lernen und für die eigene Entwicklung. „Besonders die Jungen waren durch die Pubertät mit der Verkürzung um ein Schuljahr die Verlierer in diesem System.“ Außerdem gäbe es jetzt die Möglichkeit, vielleicht eine zweite Fremdsprache in Klasse 6 zu etablieren. Die Schüler könnten stressfreier lernen, das zusätzliche Jahr würde sich auch für Auslandsaufenthalte oder längere Betriebspraktika anbieten.

Fest steht für Weinreich, dass sein Gymnasium eine verlässliche Ganztagsschule bleibt. „Ich freue mich über G9, aber nur mit neuen Inhalten“, sagt er. So wie alle anderen Leiter der Gymnasien im Landkreis wird er nun mit seinem Kollegium neue pädagogische Konzepte entwickeln und Unterrichtsinhalte definieren. Voraussichtlich 2015 kann es mit G9 wieder los gehen.