Gut 300 Stöckter bereiten sich auf Sonntag vor, für viele der wichtigste Tag des Jahres. Um 12 Uhr starten die Wagen

Petra Ehlers passt der Termin in diesem Jahr gar nicht so recht in den Plan: Ihre Stiefmütterchen stehen bis zur Decke in Holzkisten gestapelt zur Auslieferung parat. Doch bis zum Wochenende ist die Halle in Stöckte an der Elbe nicht nur Gartenbaubetrieb, sondern vor allem Werkstatt. Jeden Abend schweißen, kleistern und malen ein Dutzend Erwachsene hier an einem 13 Meter langen Krokodil für den größten Karnevalsumzug des Landkreises Harburg.

Verzeihung, nicht Karneval natürlich, sondern Faslam. Wer an der Elbe „Helau“ oder gar „Alaaf“ schreit, wird schräg angeschaut. „Bei uns ruft man Faslaaam“, macht Jenny Sommer klar. Die 32-Jährige ist an der Umzugsstrecke groß geworden und heute die Sprecherin des seit vorigen Jahres gemeinnützigen Vereins Faslamsbrüder Stöckte. Denn seit der Jahrtausendwende nehmen die Herren auch Damen in ihren Reihen auf.

Sie selbst nimmt mit ihrer seit 40 Jahren bestehenden Gruppe Beecken den NSA-Skandal auf die Schippe, ist an diesem Nachmittag bei den Kollegen von Ehlers zu Besuch. Die Truppe baut seit 1991 zusammen, davor waren es die Eltern und Großeltern. Familie Ehlers ist seit Anfang an dabei, seit dem ersten Umzug 1949 mit Pferden.

Heute ziehen Traktoren die beeindruckend groß bebauten Wagen. Beispiel „Grokodil“: Der Trecker ist eine acht Meter lange Insel, es folgt das 13,5 Meter lange Krokodil – und, wenn die Gruppe damit noch nicht genug hat, ein Boot mit Bug nach hinten. „Die Insel ist die gestrandete Opposition, auf dem Grokodil steht die Regierung – 20 Leute in schwarz und rot gekleidet“, erklärt Axel Kürschner vom Trupp Ehlers. „Auf der Jolle stehen Philipp Rösler und Bernd Lucke nach dem Motto: Wir mussten draußen bleiben.“

Doch erst einmal müssen die Frauen und Männer ihr Grokodil nach Vorbild des Gummitieres des kleinen Johann Peter (4) fertig bekommen: Europaletten und Balken als Grundgerüst, darüber Drahtgeflecht und Kabelbinder, drei Schichten Zeitungspapier, Kleister und zweimal Latexfarbe. Seit Januar arbeiten die Faslamsgeschwister an ihrem Wagen, sechs Wochen lang jeden Freitagabend und den ganzen Sonnabend, die letzten zwei Wochen vor dem Umzug täglich.

Die Stöckter lassen sich ihren Faslam nicht nur viel Freizeit, sondern auch einiges an Geld kosten: Allein das Grokodil wird inklusive Bonbons und Getränke runde 2000 Euro schlucken, der NSA-Skandal mit seinen selbst genähten Uncle-Sam-Kostümen, dem nachgebauten Brandenburger Tor und der Freiheitsstatue das Doppelte.

Und Nerven: Im Garten von Janina Stelles Elternhaus stehen zehn Frauen mit Flamingos um sich herum und sehen sich fragend in die Augen. „Die Kostüme sind fertig“, sagt die 30-Jährige. „Jetzt brauchen wir noch eine Choreografie.“ Die Gruppe Marquardt gehört zu den Fußgruppen ohne Wagen, die jungen Frauen laufen die knapp acht Kilometer lange Strecke von Stöckte bis zum Winsener Rathaus.

Ein Drahtgestell mit Pappe, darüber Kleister, Stoff und Tüll, dazu zwei Trageriemen für die Schultern und ein Band am Hals: Pieschern ist nicht am Sonntag, „ein bisschen leiden müssen wir immer an Faslam“, sagt die Stöckterin trocken. Warum sie sich das seit 23 Jahren trotzdem antut? „Weil der Umzug der wahnsinnigste und tollste Tag im ganzen Jahr ist. Weil die Zuschauer an den Straßen stehen und jubeln, und weil wir uns in der Zeit davor viel häufiger sehen als in allen anderen Monaten sonst.“

Entstanden aus einem uralten Brauch von Mägden und Knechten, die vor der Fastenzeit bei ihren Dienstherren Eier, Brot, Mettwurst, Schnaps und Geld erschnorrt haben, bedeutet der zeitgenössische Faslam für das knapp 2000-Einwohner-Dorf heute vor allem Spaß. Und Gemeinschaft. Aus Jennys Gruppe kommt eine in die Schweiz ausgewanderte Stöckterin jeden Februar zurück in die Heimat – und bringt jedes Mal ein paar Eidgenossen mit in den Norden.

Aber auch für die Integration der neuen Nachbarn an der Elbe arbeitet die Tradition: Manch einer von denen, die am Schnorrabend komisch guckten, macht mittlerweile selbst mit in einer der Baugruppen. Um schon jetzt für Nachwuchs zu sorgen, besuchen Faslamsmudder und –vadder (beides übrigens Männer) oder Mädchen der Garde regelmäßig den Kindergarten, der selbst auch einen Wagen für den Umzug baut.

Probleme machen den mehr als 400 Faslamsbrüdern und -schwestern allerdings zunehmend die Bauplätze: Eine riesige Halle wie Familie Ehlers für ihre Stiefmütterchen hat schließlich kaum jemand. Und nicht jeder kennt einen Landwirt, der seinen Hänger und Traktor gerade nicht braucht.

Rund 30.000 Zuschauer zollen den Stöcktern regelmäßig beim Umzug Respekt, exakt 19 Gruppen laufen in diesem Jahr mit, 15 davon aus Stöckte. Da sie selbst nie alle anderen Wagen sehen, haben sie die alte Tradition verwandelt: Gemeinsam verspeisen die Baugruppen die gespendeten Leckereien, wenn sie nach Umzug und Schnorren (am Montag) zusammen den Film sehen. Start des Umzugs ist am Sonntag, 2. März, um 12 Uhr im Querweg in Stöckte.