Zeitzeugen befragen, Sponsoren suchen. Günter Lange ist der Bewahrer der Harburger Eisenbahn-Historie

Harburg . Gerade will Günter Lange den Schiebewandwagen namens Hbis-ww 299 erläutern, da kommt Stadtführer Hans-Ulrich Niels auf dem Fahrrad auf dem Lotsekai vorbei, grüßt und klönt. Ob Lange sich nicht auch als Stadtführer betätigen möchte? Im Prinzip ja schon, aber was soll der 75-Jährige im angeblichen Ruhestand noch alles machen?

Lange ist Seniorenbeirat für Harburg und für ganz Hamburg, er saß lange im Aufsichtsrat seiner Baugenossenschaft, inzwischen ist er als Eisenbahnhistoriker unterwegs. Oder eher noch als Eisenbahngeschichtsorganisator. Die Geschichtswerkstatt will den Aufstieg und Fall der Schienenfahrzeuge in Harburg aufarbeiten, seit einem Jahr sucht Lange Zeitzeugen und befragt sie. „Wenn Eisenbahner etwas im Keller liegen haben, holen wir das auch ab“, wirbt er um historisches Material.

Sein Ziel ist, eine vergangene Zeit vor dem Vergessen zu bewahren. „Der Wandel Harburgs von der Industriestadt zur Wissensstadt ist der jungen Generation heute gar nicht mehr so bewusst“, sagt Lange. Die Gründung der Technischen Universität 1978 markierte am deutlichsten den Paradigmenwechsel des Stadtteils. „Ohne die Bahn wäre die ganze Entwicklung in Harburg nicht möglich gewesen“, betont Lange aber mit Verweis auf die Industriegeschichte des Harburger Hafens, die Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt und ohne Räder und Schienen kaum denkbar gewesen wäre.

Ab 1847 rollte die Königlich Hannöversche Staatseisenbahn von Celle nach Harburg. Aus der Nordsee kamen Güter vom Schiff auf die Schienen, Harburg war der nördlichste Punkt der Bahnverbindungen. Lange spricht beispielhaft über die „Anlandung von Seefisch in großer Menge“ in Cuxhaven. Hamburg war damals noch schlecht angebunden und auf den Elbhandel konzentriert. Wer Güter von Harburg nach Hamburg bringen wollte, musste die Fähre nutzen. Erst mit der Eisenbahnbrücke nach Hamburg verringerte sich ab 1872 die überragende Bedeutung Harburgs als Verkehrsknotenpunkt für Schiff und Bahn.

1885 entstand die Königliche Eisenbahn-Hauptwerkstatt, später Bundesbahn-Ausbesserungswerk genannt, an der Schlachthofstraße – über Jahrzehnte der Arbeitsplatz für Günter Lange, der eine Familientradition fortsetzt. Schon sein Vater war bei der Bahn beschäftigt. „Wir sind nicht zur Arbeit gegangen, wir sind ins Werk gefahren“, sagt Lange, der in Wilstorf aufwuchs und sich ab 1956 zunächst zum Schlosser ausbilden ließ. Die obligatorische Fahrprüfung absolvierte er noch auf einer Dampflok. In den 1960er-Jahren bildete er sich zum Werkingenieur fort. Die meiste Zeit seines Bahner-Lebens hat Lange im Ausbesserungswerk verbracht, wo die Wagen alle drei bis fünf Jahre eine Grunduntersuchung durchliefen. Die zentrale Radsatzwerkstatt erledigte Aufträge weit über Harburg hinaus.

Kürzlich hat Lange mit dem ehemaligen Dienststellenleiter des Güterbahnhofs „Harburg-Seehafen“ am Schellendamm gesprochen. Eine weitere Etappe auf einem verzweigten Weg: Die noch vollständig staatliche Bundesbahn war ein vielortiger Betrieb. Etwa 1000 Menschen haben auf den verschiedenen Harburger Dienststellen gearbeitet. Immerhin hat eine Studentengruppe – Wissensstadt Harburg! – Vorarbeit geleistet, ein Band zum Strukturwandel im Harburger Binnenhafen nach dem Zweiten Weltkrieg ist bereits erschienen. „Wurde die Kohle per Bahn angeliefert, rangierte die Deutsche Bundesbahn auf Abruf jeweils sieben bis acht Waggons zum Entladen ans Anschlussgleis von Mulch am Lotsekai“, wird dort die Betriebsamkeit beschrieben.

Zurück zur Gegenwart auf der Schlossinsel. „Diesen Wagen betrachten wir wie einen Harburger“, sagt Lange über den Hbis-ww 299, der seit März 2013 auf dem Lotsekai steht. Der zweiachsige Wagen, von dem ab 1966 gut 8500 Stück gefertigt wurden, konnte auf knapp 34 Quadratmetern bis zu 25 Tonnen Fracht befördern. Luftkissen füllten den Freiraum zwischen Transportgut und Schiebewänden aus, um eine Beschädigung der Fracht durch Verrutschen zu verhindern – das „System Daberkow“, wie es im Eisenbahnerdeutsch heißt.

Die Kulturwerkstatt will dem einsamen Harburger Gesellschaft verschaffen und plant ein Ensemble mit einem weiteren Schiebewandwagen, der für Ausstellungszwecke genutzt werden soll, und einem Flachwagen, in dem Schüttgüter wie Kohle oder Rüben transportiert wurden. So soll die Entwicklung hin zur Containerwirtschaft auf den Schienen dargestellt werden. Dafür braucht es Wagen und, klar, am besten auch Sponsoren. Denn allein der Transport der Waggons kostet vierstellige Beträge, selbst wenn der Schrottwert der Fahrzeuge nicht in Rechnung gestellt wird. Die große Zeit der Güterbahn in Harburg ist vorbei, und das seit einem Vierteljahrhundert.

Nach 105 Jahren kam das Aus für das Harburger Ausbesserungswerk

Mit der neuen Zentralanlage in Maschen wurde der alte Rangierbahnhof ab 1977 nutzlos. Und in den 1980er-Jahren gab sich die Bahn im Kampf um das Gros des Güterverkehrs den Lkw geschlagen. 1990 schloss die Bahn ihr Harburger Ausbesserungswerk – nach 105 Jahren.

Lange ging bis zu seiner Pensionierung nach Eidelstedt, spezialisierte sich im dortigen ICE-Betriebswerk auf Umweltschutzschulungen. Auch hier seinem Motto entsprechend: Wenn er etwas macht, dann richtig. „Wenn Sie einmal die Idee intus haben, die Natur zu schützen, werden Sie die nie wieder los“, sagt er. Als Aufsichtsrat der Eisenbahn-Baugenossenschaft unterstützte er im Anschluss ökologisch nachhaltige Projekte. „Ich habe auf meinem Niveau so viel Glück gehabt im Leben und möchte davon etwas zurückgeben“, sagt Lange über seinen Antrieb.