Adolphsens Einsichten: Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen. Auch nicht hier im Raum Süderelbe. Die hier lebenden Muslime, sie gehören längst zu uns

„Die Muslime halten den Stadtteil Harburg zusammen.“ Übertrieben? Falschmeldung? Mit diesem Satz wurde in dieser Zeitung kein Interessenvertreter der Muslime zitiert, sondern die Pastorin an St. Johannis Harburg, Birgit Dûsková. Die Begründung sieht sie in der hohen Fluktuation in der Einwohnerschaft. Offenbar sind die Muslime sesshafter. Fremd bis anstößig auch für die meisten Deutschen hier bei uns auch die Behauptung, dass die türkischen Mitbürger mehrheitlich sozial besser aufgestellt sind.

Ehe man gleich wieder von den türkischen Mädchen, die nicht am Schwimmunterricht teilnehmen dürfen, redet, von Zwangsheirat, Kopftüchern oder gar davon, dass die Türken uns die Arbeitsplätze wegnehmen, sollte man solche Aussagen bedenken und prüfen. Vorurteile und Stammtischparolen helfen nicht weiter. Und Angst vor Überfremdung oder vor terroristischen Islamisten auch nicht. Angst ist nie ein guter Ratgeber. Besser ist es, nicht über die Türken und über den Islam zu reden, sondern mit den Menschen islamischen Glaubens von nebenan. Mit denen, die sich in ihr Ghetto zurückziehen, ist schwer zu reden. Leider.

Der muslimisch-christliche Dialogkreis im Bezirk Harburg führt solche Gespräche. So praktiziert das auch die evangelische St.-Georg-Gemeinde mit den dortigen türkischen Vereinen. Sie besuchen sich gegenseitig in der Kirche und Moschee. Sie kümmern sich gemeinsam um die Probleme des Stadtteils, feiern zusammen Feste. Aus Fremden sind Freunde geworden. Die haben mit dazu beigetragen, dass der heruntergekommene Stadtteil befriedet und aufgeblüht ist und Konflikte durch Verständigung gelöst wurden. Was schon Goethe vor fast 200 Jahren befürwortet hat: „Wer sich selbst und andere kennt, wird auch hier (ich sage: auch hier im Raum Süderelbe) erkennen: Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen.“

Die Muslime gehören zu uns. Auch wenn fast dreißig Prozent der Deutschen meinen, dass durch die vielen kulturellen Einflüsse unser Leben unübersichtlicher und chaotischer geworden sei. Der Senat hat angesichts der Tatsache, dass knapp dreißig Prozent der Menschen in Hamburg einen Migrationshintergrund und achtzehn Prozent ihre Wurzeln in der Türkei haben, Konsequenzen gezogen. Er hat 2012 mit den Muslimen und Aleviten einen Staatsvertrag geschlossen. Der billigt ihnen das Recht auf ihre religiösen Feiertage zu. Urlaub gibt es dafür nicht, die Arbeitszeit muss nachgeholt werden. Geregelt wird auch der Religionsunterricht an staatlichen Schulen einschließlich Schwimmunterricht. Bei den Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund haben knapp die Hälfte ausländische Wurzeln. In Billbrook sogar 94, auf der Veddel 91 Prozent. Also gehören sie alle zu Hamburg und zu uns.

Wir leben schon lange nicht mehr auf einer rein deutschen Insel. Die hat es übrigens nie gegeben. Wir waren immer Einwanderungsland. Heute fahren wir japanische Autos, machen Urlaub in der Türkei, essen chinesisch oder Pizza à la Italia, trinken brasilianischen Kaffee. Unsere Demokratie hat ihren Ursprung in Griechenland, unsere lateinische Schrift in Rom. Wir schreiben arabische Zahlen. Unsere geistigen Wurzeln liegen also in Athen, Rom und Konstantinopel – Istanbul. So leben und essen wir global. Und so sollten wir auch global denken in einer Welt, die immer mehr zusammenrückt.

Es gibt nur zwei Möglichkeiten, wie wir angesichts kultureller Vielfalt unsere Identität bewahren und zugleich gewinnen.

Entweder versuchen wir, die eigene Identität durch Abgrenzung von anderen zu sichern. Dann definieren wir uns durch Grenzen. Die sollen dann bitte geschlossen sein. Man schottet sich ab, verteidigt aber so die Gegensätze. Leider hat das immer wieder Feindbilder produziert, Vorurteile verstärkt und Aggressionen hervorgerufen. Oder aber wir versuchen, mit Menschen anderer Kulturen zu leben. Zum Gespräch miteinander gibt es keine Alternative. Im Dialog akzeptiert man einander als Menschen. Als Vater, als Mutter von Kindern, als Kollege bei der Arbeit, als Nachbarn. Dabei lernt man sich immer besser kennen, beschäftigt sich mehr mit dem, was einen mit Anderslebenden, Andersglaubenden, Andershandelnden verbindet als mit dem, was einen stört und von ihnen trennt.

Wichtig ist dabei, die eigenen Traditionen, Werte und Überzeugungen nicht aufzugeben. Wohl aber die Lebensart Anderer zu respektieren. Dabei gewinnen beide Seiten. Ein kluger und aufgeklärter Muslim, der in Sarajewo lebende Schriftsteller Dzeved Karahason, beschreibt das gemeinsame Leben und Lernen so: „Mit einem anderen einen Dialog zu führen heißt nicht, dass man unbedingt Komplimente zu hören bekommt. Es heißt, sich der Tatsache bewusst zu sein, dass man nur im Spiegel des anderen sich selbst erkennen und verstehen kann.“ Ob der andere ein Muslim, ein Afghane, ein Christ, ein Deutscher, eine Türkin oder eine Polin ist, ist ganz gleich.

Helge Adolphsen ist emeritierter Hauptpastor im Hamburger Michel. Er lebt in Hausbruch. Seine Kolumne „Adolphsens Einsichten“ erscheint im Zwei-Wochen-Rhythmus sonnabends in der Regionalausgabe Harburg&Umland des Abendblattes