Lorena Faust tauschte ihre warme Heimat Belo Horizonte für ein Jahr gegen das Heim ihrer Gasteltern auf der Elbinsel

Finkenwerder. In Belo Horizonte ist es derzeit um die 30 Grad warm, eine Temperatur, bei der es sich aushalten ließe. Lorena Faust nützt das allerdings gerade wenig, denn die junge Brasilianerin ist zwar eigentlich in Belo Horizonte zuhause, aber im Moment eben nicht. Sie hat ihre Heimat im Süden Brasiliens für ein Jahr verlassen und wohnt in Finkenwerder. Dort haben die Temperaturen derzeit allzu oft einen waagerechten Strich vor der Zahl. Im Garten der Gastfamilie liegen Schneereste, auf der Elbe treibt Eis.

Zum Glück wusste Lorena schon vorher, dass es in Deutschland richtig kalt werden kann. Ihr Vater stammte aus Deutschland und die Familie war, bis der Vater vor einigen Jahren verstarb, ab und an im Raum Kassel zu Besuch. Auch Eis und Schnee sind Lorena deshalb nicht fremd. Trotzdem könnte es ruhig schnell wieder warm werden, ginge es nach Lorena.

Das warme Wetter ist das eine, das die 16-Jährige an ihrer Heimat sehr vermisst. Ihre Mutter und ihr Bruder sind das andere. „So, wie mir mein kleiner Bruder zu Hause auf die Nerven ging, hätte ich nie gedacht, dass ich ihn tatsächlich mal vermissen würde. Aber jetzt ist es so.“

Abgesehen von Wetter und Verwandschaft fühlt sich Lorena bei Gastmutter Anke Himmelreich und Gastvater Jens Osterkamp jedoch pudelwohl. Obwohl derzeit außer Lorena mit den zwei Gastgeschwistern Mila und Rasmus lediglich zwei Kleinkinder im Haus sind, sind den Gastgebern Teenager nicht fremd: Der große Sohn Leewe ist selbst gerade als Austausschüler in Brasilien.

„Das passte gerade so gut, das Zimmer ist ja frei“, sagt Jens Osterkamp. „So sind wir dann nicht nur Nutznießer des Austauschprogramms, weil unser Sohn Auslandserfahrung sammeln kann, sondern tragen auch selber etwas dazu bei, dass Austauschprogramme funktionieren können.“

Der kleine Schüleraustauschveranstalter AfS, mit dem Leewe nach Brasilien fuhr, hatte bei Familie Osterkamp/Himmelreich angefragt, ob sie nicht einen Gastschüler aufnehmen wollten. „Dass wir nun auch eine Brasilianerin hier haben, während unser Sohn in Brasilien ist, ist aber Zufall“, sagt Jens Osterkamp. Die Gasteltern hatten eine Handvoll Mappen von Schülern aus aller Welt bekommen.

Der Verein AfS interkulturelle Bildung e.V. vermittelte in diesem Jahr 679 jungen Menschen aus Gastländern, so fern wie Neuseeland und so nah wie Dänemark, Aufenthalte bei deutschen Gastfamilien und Unterricht in deutschen Schulen. Auch beim Schüleraustausch hat Deutschland übrigens ein Export-Übergewicht: Gleichzeitig vermittelte AfS nämlich fast 1200 deutsche Schüler in die weite Welt. Nach Brasilien gingen 43 deutsche AfS-Schüler. „Lorenas Mappe hat uns am besten gefallen“, sagen ihre Gasteltern. Lorena lebte sich auch schnell ein. Vor allem Familienkater Noodles und sie haben sich gegenseitig adoptiert.

Nicht nur in der Familie ist Lorena gut angekommen, auch im Gymnasium Finkenwerder, wo sie die zehnte Klasse besucht, fand sie schnell Freunde – und das obwohl sie etwas älter ist, als die meisten ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler. In Brasilien wäre Lorena in der elften Klasse. In diesem Jahrgang gibt es in Deutschland aber keine Klassenverbände und damit auch keine Klassenlehrer mehr.

Darum hielt man es für besser, Lorena quasi sitzenbleiben zu lassen – zumal sie zumindest zu Anfang des Schuljahres noch große Sprachlücken zu füllen hatte. Dabei halfen ihr die Klassenkameraden gerne, so dass Lorena mittlerweile dem Unterricht folgen und sich an Unterhaltungen beteiligen kann.

Auch zu Partys ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler wurde Lorena schon schnell eingeladen. Dabei machte sie eine völlig neue Erfahrung: „Ich kann mich in Finkenwerder viel freier bewegen, als zu Hause in Belo Horizonte“, sagt sie. In der zweieinhalb Millionen Einwohner zählenden Hauptstadt des Bundestates Minas Gerais gehen junge Frauen abends nicht alleine aus, sondern höchstens in größeren Gruppen oder in vertrauenswürdiger männlicher Begleitung.

In Finkenwerder ist das kaum mal ein Thema: „Aber wenn der Heimweg hinten über den Deich und die Feldwege gehen würde, hole ich sie auch lieber ab“, sagt Jens Osterkamp.

Als allergrößten Freiheitsgewinn empfindet Lorena es, Fahrrad, Bus und Dampfer fahren zu können. In Belo Horizonte fuhr ihre Mutter sie zur Schule und zurück, nicht nur aus Sorge um die Sicherheit: Schon mit dem Auto dauert Lorenas Schulweg in Brasilien eine Viertelstunde. Ob der Schulweg oder die Fahrt zum Volleyballtraining in Fischbek: Lorena genießt die Selbstständigkeit, die ihr das sichere Hamburg bietet.

In Brasilien muss Lorena noch ein Jahr lang zur Schule gehen, dann macht sie ihren Abschluss. Sie würde gern Medizin studieren, sehr gern in Deutschland, besonders gern in Hamburg.

Vielleicht lernt sie dann auch mal ihren Austauschbruder Leewe kennen. Auf alle Fälle würde sie Kater Noodles wiedertreffen. Nur an die niedrigen Temperaturen würde Lorena sich wahrscheinlich immer noch gewöhnen müssen.