Die Schlusssteine am 1910 erbauten Gebäude in der Harburger Rathausstraße geben noch mehr Rätsel auf

Harburg. Was macht Lenin an der Deutschen Bank? Man hat ja schon gehört, dass Volks- und Betriebswirte sich im Studium durchaus auch mit den ökonomischen Thesen eines Karl Marx befassen. Aber: Die Mehrwerttheorie ist eine Sache, Lenins Theorien eine ganz andere. Und dennoch: Die Büsten, die die Schlusssteine zweier Fenster an der Filiale der Deutschen Bank in der Harburger Innenstadt bilden, sehen dem Vater der russischen Revolution sehr ähnlich.

Nicht nur die Diskrepanz zwischen dem Sein der Bank und dem Bewusstsein des Revoluzzers stimmt den Betrachter nachdenklich – auch die Tatsache, dass das Bankgebäude von 1910 stammt. Zu der Zeit war Lenin erst 30, lebte im Exil in Genf und war weiter nicht bekannt – außer, dass er in Russland zur Fahndung ausgeschrieben war. Beim Betrachten der weiteren Köpfe fallen auch weitere Ähnlichkeiten ins Auge: Einer sieht aus wie Feldmarschall Bernard Montgomery. Auch der war 1910 in Deutschland noch nicht berühmt, sondern Leutnant, 23 Jahre alt und in Indien stationiert. Dennoch, bei so viel Ähnlichkeit beginnt man, bei allen Köpfen nach prominenten Parallelen zu suchen. Könnte dieser Kopf nicht Richard Wagner nachempfunden sein, und der da nicht dieser Schauspielerin, wie hieß sie noch mal?

Fragt man in der Filiale nach, erntet man bedauerndes Achselzucken: Anlageberatung und Aktienkurse beherrscht man von Berufs wegen, aber Architekturgeschichte? Auch die Pressestelle der Deutschen Bank in Frankfurt ist ratlos. Zwar gehörte das Gebäude quasi seit seiner Errichtung zur Firma – errichtet hatte es die Hannoversche Bank, die 1920 in der Deutschen Bank aufging – aber es gäbe keine Unterlagen darüber, außer einem Foto von 1950.

Erst beim Denkmalschutzamt gibt es einen Hinweis: Pressesprecherin Kristina Sassenscheidt verweist auf den Architekturführer „Architektur in Hamburg“ von Ralf Lange: „Die Schlußsteine der Erdgeschoßfenster zieren Reliefköpfe unter anderem von von Fischern und Bauern als Verweis auf die traditionelle Wirtschaft des Süderelberaums“ steht in dem 1995 in Stuttgart erschienenen Werk, und weiter: „diese spielte aber nur noch eine nachrangige Rolle gegenüber der wirtschaftlichen Bedeutung der Industrie.“ Weswegen Architekt Bernhard Weise wohl auch einen Industriearbeiter mit in seine Büstensammlung aufnahm. Der Spitzbart war damals weit verbreitete Mode – nicht nur unter Arbeitern. Selbst der König von England, Edward VII. trug manchmal so einen. Die Schirmmütze war seinerzeit ein Standardkleidungsstück für Industriearbeiter – auch aus Gründen der Unfallverhütung. Lenin setzte sie einst auf, um Volksnähe zu demonstrieren, stammte er selbst doch aus begüterten Verhältnissen. Allerdings: Fuhr Lenin 1910 vielleicht von Genf nach Harburg, um sich seinen persönlichen Stil für die russische Revolution von einer Büste an einem Bankfenster abzugucken? Darüber können seine Biografen mal nachdenken.