Die Theatergruppe Ungeschminkt inszeniert in Harburg Romeo und Julia klassisch und innovativ zugleich

Wer das Privileg genießt, beim Harburger Theaterensemble Ungeschminkt vor der Premiere ihres Stückes Romeo und Julia Einblick in die Probenarbeit zu bekommen, dem gibt Regisseur Haiko Schröder eine für Theaterbesucher überraschende Handlungsempfehlung: „Füße hoch“ rät er mit der Bestimmtheit eines Imperativs, „sonst ist es zu gefährlich!“ Und tatsächlich schliddert wenig später ein Holzstab mit Karacho über den Boden in die Stuhlreihe. Die Schauspieler haben sich seit einem Jahr so manchen blauen Fleck eingefangen. Denn der Karatesportler Simon Brunken übt mit ihnen Kampfchoreografien für die Fehde ein, die William Shakespeare den Familien Capulet und Montague angedichtet hat.

Mit seiner Inszenierung der berühmtesten Liebesgeschichte der Weltliteratur sorgt das Ensemble Ungeschminkt bereits vor der Premiere für Aufsehen in Harburg: Die beiden Vorstellungen am 17. und 18. Januar im Rieckhof sind ausverkauft. Dabei weiß jeder, wie die Geschichte endet: Romeo und Julia sterben. Allein in Hamburg haben in den vergangenen drei Jahren das Deutsche Schauspielhaus und das Thalia Theater Shakespeares Tragödie von 1597 auf die Bühne gebracht. John Neumeier schuf daraus eine Ballett- Sensation. Irgendwo an einem Theater in Deutschland läuft Romeo und Julia immer – so zeitlos populär ist das Stück. Die Geschichte zweier Liebender aus verfeindeten Familien lässt sich nicht mehr neu erfinden – so oft haben haben sich Regisseure, auch im Kino und im Fernsehen, daran probiert. Aber dennoch sind Heiko Schröder Innovationen gelungen.

Ungeschminkt verbindet Elemente des Bewegungs-, Tanz- und Sprechtheaters mit athletischen Stockkämpfen. Die Harburger Theatergruppe geht an den Ursprung des Theaters zurück und spielt wie zu Shakespeares Lebzeit inmitten des Publikums. Sie kommt mit nur sechs Requisiten aus und verzichtet auf Kostüme. Egal ob Mercutio, Tybalt oder der Prinz von Verona – alle tragen schwarz. Nur verschieden farbige Schärpen verraten ihre Clanzugehörigkeit.

Nichts soll vom Wesentlichen ablenken. „Mein Anspruch ist: Das Stück soll gut werden“, sagt Haiko Schröder, „und nicht: Es soll viel werden.“ Bereits seit dem Jahr 2010 bündelt er Ideen, verwirft sie und findet neue Erzählstränge.

Regisseur Haiko Schröder schafft eine zweite Erzählebene in der Gegenwart

Die Schlichtheit der Poesie als Formensprache wäre nicht wirklich etwas Neues. Hätte Haiko Schröder nicht eine zweite Erzählebene und damit einen Weltenbruch geschaffen. Der Regisseur lässt die Aufführung in der Gegenwart beginnen. In einem Museum streiten ein Junge und ein Mädchen um ein iPhone. Diese Missachtung der faszinierenden Welt um sie herum wegen eines banalen Taschencomputers löst das Erscheinen eines offenbar durch die Zeit schwebenden Erzählers aus, der Shakespeares Figuren aus der Vergangenheit hervorholt. Damit lässt der Theatermacher das Statussymbol des frühen 21. Jahrhunderts vor der 420 Jahre alten Poesie erblassen.

Auch den Ball im Hause Capulet, bei dem Romeo zum ersten Mal Julia erblickt, inszeniert Haiko Schröder als Weltenbruch. Die Mächtigen im Verona des 16. Jahrhunderts tanzen zu Technomusik, die Bewegungen sind erotisch, teils provozierend homoerotisch. Mit einem derartigen Zeitenbruch hatte auch einmal die Filmregisseurin Sofia Coppola ihr Publikum überrascht und die Kaiserin Marie Antoinette in Rokoko- Kleidern zu New-Wave-Musik tanzen lassen.

In Kontrast zu der Modernität der Ballszene bleibt die Sprache stets altertümlich. „Weil sie so schön klingt“, so Haiko Schröder. Das Ensemble musste sich erst an einen unbekannten Wortschatz und die Versformen gewöhnen – bis es sich in die den Texten inne wohnende Poesie verliebt.

Eine weitaus größere Herausforderung als die Shakespearesche Sprache stellen die Kampftechniken dar, die nahezu alle Schauspieler des Ensembles zu lernen haben. Wenn man länger mit Haiko Schröder zusammenarbeite, wisse man, dass er Theater nicht nur so aussehen lasse als ob, sagt die Schauspielerin Britta Sell. Und so übt das Ensemble seit etwa einem Jahr Stockkampf- Choreografien ein, trägt bei den Proben gepolsterte Knieschützer und Bandagen.

Der Probenraum wird zum Fitnessclub: Monika Bossen tritt ihrem Schauspielpartner Linus Bahlmann in die Magengrube. Sie spielen mit verbissener Intensität den Kampf auf Leben und Tod zwischen Romeos Freund Mercutio und seinem Widersacher Tybalt. Mit leicht gesenktem Kopf beobachtet Kampftrainer Simon Brunken die Szene, ermahnt immer wieder zu sauberen Ausführung der Techniken. Langsamer, rät er, das Auge des Zuschauers sei auch langsam. Die Schnelligkeit der Bewegung stelle sich schon ein, wenn die Szene hundertprozentig sitze. Der 27-Jährige hat 15 Jahre Erfahrung in Sport-Karate.

Der Kampfszenen-Choreograf Simon Brunken beharrt auf Authentizität

Immer wieder diskutieren der Kampfszenen-Choreograf und der Regisseur die Frage, in wie weit die Perfektion der Kampfbewegungen zu Lasten der schauspielerischen Ausdruckskraft gehen dürfe. Simon Brunken spielt selbst in einer Doppelrolle den Prinzen von Verona und den Erzähler. Er beharrt aber auf der Authentizität der Kampfszenen.

Trotz der aufwendig einstudierten Kampfszenen, die etwa zehn Prozent der Handlung ausmachen, geht es vor allem um die Liebe. Die Szenen zwischen Romeo und Julia seien traumhaft schön, verspricht Haiko Schröder.

Wer keine Eintrittskarte für den Januar mehr kaufen konnte: Im Mai oder Juni sind voraussichtlich zwei weitere Aufführungen im Rieckhof geplant.