Ein Freund aus Meckelfeld geht zum 1. Februar in den Ruhestand. Ich schreibe ihm an dieser Stelle aus eigener Erfahrung einen persönlichen Brief.

Lieber Karl-Heinz,

Du bist gerade 65 geworden. Du hast damit eine Schwelle überschritten. Die nächste folgt sogleich. Du gehst am 1. Februar in den Ruhestand. Musst Du oder willst Du? Die Antwort darauf hast Du mir bisher verschwiegen. Manche sagen: „Endlich!“ Andere fürchten sich davor und fühlen sich dann rausgeschmissen. Die verstehe ich gut. Sonst versuchen wir, alle wichtigen Schritte in unserem Leben mitzubestimmen. Beim Abschied aus dem Berufsleben wird über uns verfügt. Eigentlich anachronistisch in unserer Zeit.

In jedem Fall beginnt für Dich ein neues Leben. Hoffentlich bereiten sie Dir in Deiner Firma einen guten Abgang. Mit ehrlichen Worten und einem Dank, der nicht pflichtgemäß klingt. Wenn sie Dir sagen, dass Du nach Deinen 30 Jahren Betriebszugehörigkeit jederzeit willkommen bist, glaube das nur ja nicht. Du wirst nur stören. Die Älteren werden sagen: „Früher war alles besser.“ Und die Jüngeren: „Was will der schon wieder hier?“ Loslassen ist schwer. Du wirst Dich noch so manches Mal nachts im Traum an Deinem früheren Arbeitsplatz sehen. Ein Zeichen dafür, dass Dir die regelmäßige Arbeit fehlt. Und Du eigentlich darauf angewiesen bist, gebraucht zu werden. Arbeiten ist ja weit mehr als Geldverdienen. Es bedeutet Wertschätzung und Anerkennung. Und gibt Sinn.

Du gehörst nun zu den Älteren. Mach Dir da nichts vor. Du hast jetzt vollen Anspruch auf eine Seniorenkarte. Wenn Du mit der Bahn fährst und ein Jugendlicher Dir seinen Platz anbietet (das soll auch heute noch vorkommen, schimpf also nie auf die Jugend von heute!), dann fragst Du Dich vielleicht, ob Du schon so gebrechlich aussiehst. Du wirst damit leben müssen, dass das Altern immer noch mit Abstieg und Verfall der körperlichen und geistigen Kräfte assoziiert wird. Sogar mit Hinfälligkeit, Pflegebedürftigkeit und Demenz. Das ist sehr einseitig. Du hast hoffentlich vor einem solchen Ende, das auch Dich betreffen kann, noch eine lange Zeit vor Dir, in der Du Dein Leben frei gestalten kannst. Die überkommenen Bilder und Vorstellungen über das Alter sind Vorurteile. Es kommt auf Deine Einstellung an. Nicht auf die Bilder vom Altern anderer. Setz Dir also selbst Ziele, was Du tun und erreichen möchtest. Und wie Du jetzt leben willst. Dafür ist es nie zu spät, sagen die Wissenschaftler. Trau Dir etwas und sogar viel zu. Mache Pläne. Gedanken können Berge von Müdigkeit, Langeweile und Altersfrust versetzen. Eine selbstbestimmte und positive Haltung bewirkt Erstaunliches. In einer Langzeitstudie mit Älteren über den Zeitraum von 20 Jahren fanden Forscher heraus, dass diejenigen, die das Älterwerden als Chance verstehen, im Durchschnitt 7,5 Jahre älter werden als diejenigen, die eine negative Einstellung haben.

Du wirst jetzt wie so viele vor Dir zu Hause aufräumen und Ordnung schaffen. Aber wenn das getan ist, was dann? Du wirst sicher Deine Briefmarkensammlung vervollständigen. Gut so. Deiner Frau solltest Du nicht alles ab- und wegnehmen, Einkaufen, Bankgeschäfte… Sie wird Dir das nicht lohnen. Streit ist dann programmiert. Ihr müsst Euch neu finden. Was gar nicht so einfach ist. Pflege Deinen Garten im Kleingartenverein. Frische Luft tut gut. Sich viel bewegen ist besser. Aber trau Dich auch, Neues zu beginnen. Du könntest Dein Englisch auffrischen. Reisen bildet mehr, als im Urlaub in der Sonne zu zu braten! Deine Computerkenntnisse könntest Du verbessern. Sag nie, Du willst mit der neuen Kommunikationstechnik nichts zu tun haben. Du verlierst dann schnell den Anschluss an neue Entwicklungen und die Jüngeren. Out zu sein ist ein schlechtes Gefühl. Es ist sinnvoll und bringt Dir Gewinn, Dich für andere zu engagieren. Such Dir unter den vielen Möglichkeiten im sozialen oder kulturellen Bereich eine Aufgabe, die Dir liegt. Du merkst dann, dass Du gebraucht wirst. Und wie viel Du von dem zurückbekommst, was Du tust. Neue Kontakte und Begegnungen sind wichtig. Bei Deinem Interesse an Geschichte könnte ich mir vorstellen, dass Du an der Uni im Seniorenstudium Vorlesungen hörst. Geistige Tätigkeit ist Gehirnjogging und hält Dich beweglich.

Ich habe mir zu eigen gemacht, was ich in einer Laudatio auf den amerikanischen General Mc Arthur fand: „Niemand altert aus dem Grunde, eine gewisse Zahl von Jahren gelebt zu haben. Der Einzelne wird alt, weil er seine Ideale verlassen hat. Die Jahre können die Haut aufrauen, aber wenn man die Begeisterung verliert, dann zieht sich die Seele zurück. Sorge, Zweifel, Mangel an Beweglichkeit, Angst und Verzweiflung… Das sind die langen Jahre, die das Haupt beugen und den Geist einäschern.“

Lieber Karl-Heinz, Du hast keinen Grund, schwarz zu sehen. Bleib gesund und halte Dich bei Kräften. Und pflege Deine positive Einstellung. In diesem Sinne bleibe ich Dir verbunden als

Dein Helge