Das angefahrene Tier hat Chancen, gesund zu werden. Im Kreis lebten zuletzt mehr als 30 Paare. Die Tiere kommen im Frühjahr aus Afrika zurück

Drage. Er ist vorsichtig. Auf dem Acker am Rande der Landesstraße 217 bei Drage hält er Abstand zu seinen Besuchern. Mehr als 15 Meter lässt er keinen heran. Dann flattert er auf und stolziert mit seinen langen Beinen locker über den aufgeweichten, tiefen und matschigen Kleiboden. Nutzt er die große Pfütze am Rande des Feldes oder sitzt er auf den Apfelbäumen? Das weiß niemand so ganz genau. Klar ist: Der Storch von Drage (Elbmarsch) ist verletzt und kann, nachdem er Heiligabend mit einem Pkw kollidiert war, nicht mehr gut fliegen. Deshalb wird er jetzt von einer Anwohnerin mit Futter versorgt. „Wir hoffen jedoch, dass er sich erholen und den Winter gut überstehen wird“, sagt Hans Steinert, der Storchenbetreuer im Landkreis. Er ist der örtliche Vertreter der Landesarbeitsgemeinschaft Weißstorchschutz, die unter dem Dach des Naturschutzbundes (Nabu) arbeitet.

Irgendwann im Herbst hat das Tier offensichtlich den Abflug verpasst. Seit Oktober ist er im Landkreis. Die Jungen, die im Mai und Juni geboren wurden und nach acht bis neun Wochen flügge sind, haben bereits im August und September Kurs auf Afrika genommen. Dieser Storch jedoch schon älter. „Wie alt, ist schwer einzuschätzen. Denn er trägt keinen Ring“, sagt Steinert. Mit solchen Ringen, die für den Landkreis Harburg von der Vogelschutzwarte auf Helgoland ausgegeben werden, ließen sich anhand der einstanzten Nummern Rückschlüsse ziehen. Die ältesten Störche, die Steinert bisher aufgespürt hat, waren immerhin 25 und 26 Jahre alt. Auf dem Acker bei Drage lässt sich nun aus der Entfernung aber nicht einmal sagen, ob es sich bei dem Besucher um ein Männchen oder ein Weibchen handelt.

Störche stehen heute unter Naturschutz und haben es immer schwerer, genügend Nahrung zu finden. Hintergrund: Immer mehr Flächen werden versiegelt, und zudem finden die Vögel in der Landwirtschaft zu wenig Grünflächen. Dort aber lassen sich Mäuse, Regenwürmer, Frösche oder Fische erbeuten. Pro Tag frisst ein ausgewachsenes Tier 500 Gramm. Steinert hat ausgerechnet, was das bei der Versorgung der jungen Vögeln bedeutet: „Wenn ein Paar drei Eier ausbrütet, müssen pro Tag 4,6 Kilogramm Nahrung herangeschafft werden. Das entspricht 240 Mäusen oder 10.000 Regenwürmern.“

Immerhin war 2013 für die Population im Landkreis ein gutes Jahr. Zwar verloren die Paare, die früh brüteten, ihre Jungen im langen, nassen und kalten Winter. Aber die Störche, die sich damit mehr Zeit ließen, konnten ihren Nachwuchs dann lange genug schützen. Später, als die Tage wärmer wurden, profitierten sie von den feuchten Böden, in denen sich ausreichend Nahrung finden ließ. 33 Paare mit mehr als 70 Jungen hat Steinert 2013 im Landkreis gezählt. Bis auf vier Nester in Salzhausen, Wistedt, Ramelsloh und Bahlsburg stehen alle in der Elbmarsch. Die Paare und Einzelgänger verhalten sich ähnlich wie Menschen. „Störche ziehen gern auch mal um“, sagt Steinert,

Zu den Aufgaben des Storchenbetreuers für den Nabu gehören die statistischen Aufzeichnungen über seine Lieblingsvögel. Seit 1995 zählt Steinert jährlich die Nester, die Zahl der Jungen, die Paare und Einzelgänger und behält so die Population im Auge. Vier Jahre zuvor hatten sich noch weniger als zehn Paare mit Nachwuchs im Kreis niedergelassen. Nun zeigt der langfristige Trend bei der Populatuion der Tiere wieder nach oben. „Ich wünsche mir natürlich, dass das anhält“, sagt er.

Steinert hat noch einen zweiten Wunsch. Der 79 Jahre alte Elektro-Ingenieur, der lange für Siemens in Hamburg gearbeitet hat, würde gern einen Nachfolger einarbeiten. Gesucht würde ein Naturliebhaber mit einem ähnlichen Enthusiasmus für Weißstörche wie Steinert ihn hat, der schon 1958 und 1959 bei der ersten Zählung für seinen Heimatkreis in der Nähe von Cuxhaven dabei war. Wie sehr er an den Tieren hängt, wird in seinem Büro deutlich. Gleich hinter dem Computer, aus dem er jetzt die statistischen Daten über die Tiere ausdruckt, hat er eine Sammlung von Miniaturen aus Plastik, Porzellan, Plüsch oder Pappe platziert. Natürlich nur Störche.