Karl-Ulrich Fichtner aus Hausbruch hegt und pflegt eine alte Bibel von 1729, die nur durch Zufall noch existiert

Hausbruch. Um es vorweg zu nehmen: Diese alte Bibel aus dem Jahr 1729 hat einen Schuss und unter Sammlern deshalb nur noch einen Wert von etwa 150 Euro. Gut erhaltene Exemplare der Auflage, von denen es noch einige gibt, werden im Internet hingegen mit mehr als Tausend Euro gehandelt. Für den 90 Jahre alten Karl-Ulrich Fichtner aus Hausbruch ist es egal, dass seine Bibel trotz ihres Alters kein besonders wertvolles Sammlerstück mehr ist. „Für mich zählen die Erinnerungen, die mit diesem Buch verbunden sind“, sagt er, „das ist ein Familienerbstück, das schon Bomben- und Feuernächte in Hamburg und auch einen Gewehrschuss in Rostock überstanden hat.“ Und diese Bibel wird einmal seine Tochter Petra erben, die sich bereits seit ihrem fünften Lebensjahr für den mehr als 2000 Seiten zählenden Wälzer interessiert.

Der Feuersturm-Bombardierung Hamburgs war die Bibel im Sommer 1943 nur knapp entkommen. Die Wohnung auf der Veddel hatte es getroffen, die Küche stand in Flammen und auch mehrere Möbel. Fichtner: „Aber die Bibel blieb von den Flammen verschont. Wir haben sie anschließend nach Stavenhagen in Mecklenburg bei der Schwester meines Vaters in Sicherheit gebracht. Und die wiederum hielt es für sicherer, das mehr als 20 Kilogramm schwere Buch bei einer Freundin in Rostock zu deponieren.

Aber das war vermutlich nicht die beste Wahl, denn nach Ende des Zweiten Weltkriegs zogen russische Soldaten in Rostock ein, besetzten die Stadt, und einer der Soldaten hatte beim Durchsuchen der Wohnung sein Gewehr genommen und einen Schuss auf die senkrecht aufgestellte Bibel abgegeben. Die Kugel durchlöcherte das mit Leder, dicker Pappe und Messingbeschlägen eingebundene Druckerzeugnis aus dem Tübinger Verlag von Johann Georg und Christian Gottfried Cotta. Der Schuss traf nicht direkt ins Zentrum sondern durchschlug rechts unterhalb davon den Einband und die Seiten. Bis Seite 971, fast bis zur Buchmitte, reicht der Schusskanal. Die Kugel steckt nicht mehr in der Bibel.

„Als mein Vater Ulrich Hans Immanuel Fichtner nach dem Krieg mit unserer Ahnenforschung begann, hatte er auch Kontakt zum Oberkirchenrat des Landes Mecklenburg aufgenommen. Und 1961 hatte sich unsere Familie dann auch auch mit dem Rat der Stadt Rostock in Verbindung gesetzt“, erinnert sich Fichtner, „wir konnten notariell beglaubigt versichern, dass die bei der Bekannten in Rostock deponierte Bibel unser Familieneigentum ist. Die DDR-Behörden hatten die Unterlagen geprüft und die Bibel zu uns nach Hamburg geschickt.“

Die Bibel war am 14. Februar 1962 in der Eilgutabfertigung an der Oberhafenbrücke eingelagert. Alte Hamburger erinnern sich an die Flutkatastrophe in der Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962. Fichtner: „Als ich die Bibel einen Tag vorher von der Eilgutabfertigung abholte, schwappte das Wasser bereits bis an die Mauern des Hafenschuppens.“ So hat die Bibel nicht nur ganz knapp den Feuersturm in Hamburg überstanden sondern auch noch die Flutkatastrophe.

Die Jahre danach kam die von Christoph Matthäus Pfaff verfasste Bibel nur kurz zur Ruhe. Die Familie Fichtner war umgezogen von einer Wohnung in Sasel in ein Reihenhaus in Hausbruch. Fichtner: „Nun hat die Bibel einen festen Liegeplatz ganz unten im Bücherschrank. Das Buch ist allerdings so schwer, dass ich es kaum noch halten kann.“ Und dennoch: Gelegentlich holt er es aus dem Schrank, legt es auf den Tisch, schaut sich die kunstvoll gedruckten Seiten des knapp 300 Jahre alten Buchs an. „Die Bibel gehörte meinem Großvater Carl Friedrich Wilhelm Fichtner. Er lebte von 1847 bis 1910 und war Pastor in Groß Poserin. Das ist ein kleines Dorf bei Waren an der Müritz“, erinnert er sich.

Auf der erste Seite steht in schwarzer und roter Schrift: „Biblia, Das ist die ganze Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments, Nach Übersetzung und mit den Vorreden und Randglossen D. Martin Luthers, mit neuen Vorreden Summarien – hier durchlöchert der Einschuss den Text – weitläufigen Parallelen, Anmerkungen und geistlichen Anwendungen auch Gebeten auf jedes Kapitel wobei zugleich nötige Register und eine Harmonie des Neuen Testaments beigefügt sind.“ Fichtner ist angetan von der damaligen Druckkunst und der Qualität des Papiers, das bis heute kaum Schaden genommen hat – mit Ausnahme des Einschusslochs.

Karl-Ulrich Fichtner ist geistig außerordentlich rege, hegt und pflegt mit seinen 90 Jahren aber nicht nur die alte Bibel. Er hat im Küchenschrank auch noch von der Mutter vor 85 Jahren in einem Konservenglas eingeweckte Champignons stehen. Die Champignons hatte er damals als Fünfjähriger selbst gesammelt, als sein Vater Inspektor auf dem Gut Krummsee bei Reuterstadt Stavenhagen in Mecklenburg war. Die Pilze wird sein Sohn Axel eines Tages vermutlich als Erbstück übernehmen. Ans Aufessen der Konserve wird nicht gedacht.

Fichtner, der im Berufsleben bei Hochtief und zuletzt im Finanz- und Rechnungswesen bei Esso gearbeitet hatte, war schon als Schüler geschäftstüchtig. Auf der Veddel hatte er beim „Eisenkrämer Franz Schoop“ von 15 bis 18 Uhr als Laufbursche Waren zu Kunden gebracht und dafür 15 Reichsmark pro Woche verdient. „Das war viel Geld für mich“, erinnert er sich.

In seiner Sammlung hat Fichtner auch eine dicke Mappe mit Autogrammkarten zahlreicher Prominenter aus Politik und Fernsehen, darunter Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder oder auch der frühere Tagesthemenmoderator und heutige WDR-Intendant Tom Buhrow, ebenso Entertainer wie Thomas Gottschalk oder die RTL-Wetterfee Maxi Biewer. Die rief eines Tages sogar persönlich bei Fichtner an. Der Grund des Promi-Kontakts und der Autogrammkartensammlung liegt darin, dass sich Fichtner als gebürtiger Mecklenburger schon häufig darüber ärgerte, wenn im Fernsehen der Ländername Mecklenburg wie „Meckern“ ausgesprochen wird. „Das ist falsch“, sagt Fichtner und weist auf eine Erklärung der Gesellschaft für deutsche Sprache hin. Demnach wird Mecklenburg mit lang gezogenem „e“ ausgesprochen.