In einer Projektarbeit haben Schüler des Immanuel-Kant-Gymnasiums das Schicksal von vier Kindern recherchiert

Harburg. Gerrit Liebing ist Schüler am Immanuel-Kant-Gymnasium. Auf seinem täglichen Schulweg liegt die Bushaltestelle am Nymphenweg. Hier trifft Gerrit fast täglich Menschen mit Behinderungen, die in die Schule Elfenwiese gehen oder in der benachbarten Behindertenwerkstätte arbeiten. „Für mich ist das ganz normal, diese Menschen zu treffen. Ich habe mir da auch nie etwas gedacht.“ Das dürfte sich jetzt für den Schüler geändert haben.

Mit einigen Mitschülern, Lehrern und Klaus Möller von der Initiative Gedenken in Harburg, hat Gerrit Liebing an einem Projekt teilgenommen. In wochenlanger Recherchearbeit haben die Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 19 Jahren vier Opfern des Nationalsozialismus aus Harburg ein Gesicht gegeben. Sie haben unter anderem anhand der Krankenakten der vier behinderten Kinder aus dem Kinderheim im Eißendorfer Pferdeweg12, die von den Nazis getötet wurden, nachgeforscht. die Schüler haben versucht, deren Leidensweg zu dokumentieren.

Entstanden ist das Projekt aus dem Geschichtsunterricht in der zehnten Klasse, als die Schüler den Nationalsozialismus durchgenommen hatten. „Mich hat einfach interessiert, wie es einzelnen Menschen damals ergangen ist. Man erfährt immer die Opferzahlen in Millionenhöhe, aber über Einzelschicksale erfahren wir eigentlich wenig“, begründet Janina Schlemm ihre Teilnahme an dem Projekt, an dem insgesamt elf Jugendliche mit gearbeitet haben.

Klaus Möller hatte den Schülern die Grundlage für ihre Recherche geliefert, die Krankenakten der vier behinderten Kinder. Die weitere Spurensuche aber gestaltete sich schwierig, Akten waren verschwunden, und nach dem Kriegsende war es den Schergen des Naziregimes gelungen, viele Beweise für ihre Greueltaten zu vernichten. Trotzdem haben die elf Schüler einige Informationen über das Schicksal dieser Kinder zusammengestellt.

Die vier Kinder lebten in dem staatlichen Kinderheim in Harburg bis 1943. Das Haus Nummer12 existiert nicht mehr. Es wurde im Herbst 1944 zerstört und nie wieder aufgebaut. Im August 1943 wurde in ihren Akten vermerkt, dass sie „lebensunwerte“ Wesen seien, und ihr Verhalten „nicht tragbar“ sei für das Kinderheim. Die Kinder wurden in zwei hessische Einrichtungen verlegt und dort getötet. „Man kann die Tötung von Behinderten im Dritten Reich in der Tat in zwei Phasen einteilen. In der ersten Phase wurden die Menschen einfach vergast. Doch als sich dagegen aus der Bevölkerung Widerstand regte, gingen die Nationalsozialisten mit diesem Thema vorsichtiger um. In diese Phase fallen die Morde an diesen vier Kindern“, sagt Möller.

„Dieser Umgang mit Menschen war Teil der NS Politik. Man muss sagen, dass damals Arbeiter mehr wert waren als Menschen mit Behinderung. Wer nicht arbeiten konnte, war wertlos und musste entsorgt werden. Diese Sicht der Dinge ist einfach moralisch nicht tragbar“, sagt Jonas Angelis. Es sei schon pervers, so der Gymnasiast,, „wie genau und grausam das System war. Jeder wusste davon, aber letztlich ist das Reime doch gescheitert. „Da wurden einfach Akten abgestempelt und Kinder in den Tod geschickt. Die genaue Zahl der Opfer werden wir wohl nie erfahren“, so Jonas Angelis.

Von 1939 bis 1941 sollen etwa 70.000 Menschen mit Behinderung von den Nazis ermordet worden sein. Weil die Nazis dann dazu übergingen, diese Morde zu vertuschen, ist es heute schwierig, Opferzahlen zu schätzen. Viele Opfer starben zum Beispiel angeblich an einer Lungenentzündung. Möller aber geht davon aus, dass in der zweiten Phase 125.000 bis 250.000 Menschen mit Behinderung den Nazis zum Opfer fielen. „Wenigstens diesen vier Kindern konnten wir in diesem Projekt ein Gesicht geben“, sagt Janina Schlemm. „Es war sehr schwierig, die genauen Todesursachen der Kinder heraus zu bekommen, oder gar einen Hinweis auf einen direkten Mord an ihnen zu finden. Oft hat man die Kinder in den Anstalten einfach verhungern lassen oder, wenn sie krank waren, bekamen sie keine Medikamente. Die Pfleger und Ärzte haben sie sich selbst überlassen“, sagt Tobias Kohl. Es sei, so Tobias Kohl, im Nachhinein auch viel von den Verantwortlichen vertuscht worden. Dass die Schüler trotzdem brauchbare Ergebnisse ihrer Recherche vorweisen können, wäre ohne die Unterstützung der Initiative Gedenken in Harburg kaum möglich gewesen. Möller und seine Mitstreiter haben es sich auf die Agenda gesetzt, Schüler und Jugendliche, die sich für solche Projekte interessieren, fachlich bei ihrer Arbeit zu unterstützen.

Auch die beiden Lehrer Claudia Puttfarken und der Klassenlehrer der 10a, Paul Deuschle, haben die Schüler in ihrer Arbeit unterstützt. Die Mitarbeit an diesem Projekt wird den Schülern des Immanuel-Kant-Gymnasiums als Lehrleistung für das Abitur anerkannt. Außer den Patientenakten der vier getöteten Kinder dienten den Schülern auch Teile der Biografien dieser Kinder aus dem Harburger Kinderheim als Arbeitsgrundlage.0