In der Online-Beratungsstelle U25 in Harburg bringen zwei ehrenamtliche Krisenberaterinnen Lebensmüde wieder in die Spur

Harburg. Wie Millionen andere junge Leute in Deutschland auch, hält Annika über das Internet Kontakt zu Freunden und Mitschülern. E-Mails, chatten – alles blitzschnell und unkompliziert. In der Regel einmal in der Woche verfasst die 16 Jahre alte Gymnasiastin aus dem Stadtteil Langenbek jedoch eine Mail, bei der jedes Wort genau überlegt sein will: Die Schülerin engagiert sich in ihrer Freizeit, lebensmüden jungen Leuten, den Gedanken an Selbsttötung zu vertreiben und wieder Mut zum Leben zu geben.

Annika engagiert sich ehrenamtlich in der Online-Beratungsstelle U25 Suizidprävention. Sie ist eine von insgesamt 92 Krisenberatern des Projekts der Caritas in ganz Deutschland. Elf von ihnen sind in Hamburg tätig, die übrigen in Freiburg, Berlin, Dresden und Gelsenkirchen. Der Standort Hamburg hat vor einem Monat die Arbeit aufgenommen. Träger ist In Via Hamburg, ein Fachverein im Caritas-Verband. Laut der deutschen Caritas sterben jedes Jahr etwa 10.000 Menschen durch Selbstmord. Das seien mehr als durch Verkehrsunfälle und Drogen zusammen.

In insgesamt 32 Arbeitsstunden ist Annika zur Krisenberaterin ausgebildet worden. „Ich bin bereit, auch schlechte Nachrichten zu lesen“, sagt die 16-Jährige. Mit ihrer ersten Klientin, so nennen die Berater die Hilfesuchenden, hat Annika vier E-Mails ausgetauscht. Dann hat das unbekannte Mädchen den Kontakt abgebrochen. „Man wird schon nachdenklich, wenn eine Klientin nicht zurückschreibt“, sagt sie. Die Hilfesuchende war eine Schülerin, die sich in der Familie unter Druck gesetzt fühlte. Sie habe Probleme mit dem Vater gehabt. Die Berater versuchen die Gedanken ihrer Klienten darauf zu lenken, was sie glücklich macht. Beim Breakdance habe sich das Mädchen frei gefühlt, hat Annika herausgefunden.

Die Onlineberater kennen die Namen ihrer Klienten nicht. Wissen nicht, wo sie wohnen. Die Jugendlichen melden sich anonym bei der U25-Beratungsstelle an. Viele junge Menschen in der Pubertät beginnen, über das Sterben nachzudenken. Suizidgedanken in dieser Lebensphase sind normal. 2000 Anfragen im Jahr erreichen allein die Online-Beratungsstelle in Freiburg, die Wiege des Projekts. „Jugendliche bewegen sich viel im Netz, wenn sie sich mit dem Gedanken an Suizid befassen“, sagt Nina von Ohlen, U25-Projektleiterin in Hamburg. Da es nur wenig Hilfsangebote für diese Zielgruppe in Deutschland gebe, stießen sie dabei schnell auf die U25-Beratungsstelle.

Niemand erwartet von den ehrenamtlichen Beratern, Ratschläge wie ein professioneller Psychotherapeut zu geben. Die U25-Berater haben aber einen nicht zu unterschätzenden Vorteil: Sie sind gleich alt wie die Hilfesuchenden. Sie begegnen ihren Klienten auf Augenhöhe, können nachempfinden, was es bedeutet, im Prüfungsstress zu sein oder Ärger mit den Eltern zu haben.

Ein Grundgesetz der Beratung ist: Die jungen Berater antworten niemals in Echtzeit wie in einem Live-Chat. Sie antworten ausschließlich in E-Mails. Annika darf sich bis zu sieben Tage Zeit nehmen, um einer Klientin zu antworten. Projektleiterin Nina von Ohlen liest zuvor alle Antworten, die an lebensmüde Klienten herausgehen.

„Auf keinen Fall setzen wir Klienten unter Druck. Wir machen ihnen keine Vorwürfe, unterstellen ihnen keine Fehler“, erklärt die 17 Jahre alte Maria aus Hausbruch. Sie besucht wie Annika das Alexander-von-Humboldt-Gymnasium in Harburg und hat sich ebenfalls zur Online-Suizidpräventionsberaterin ausbilden lassen.

Oft reicht es jungen Leuten, die an Selbstmord denken, dass sie überhaupt einen Ansprechpartner haben. Oft haben sie sich so weit abgekapselt, dass der unbekannte Online-Berater ihr einziger Kontakt ist. Vielleicht haben die gleichaltrigen Helfer nur wenig Antworten. Aber sie haben immer Fragen – und oft reicht das schon, um Hilfesuchenden wieder in die Spur zu bringen. Von den „ganz schlimmen Geschichten“ hält sich Maria zunächst noch fern. Gemeint sind Klienten, die von Selbstverstümmelungen berichten oder den Willen zum Leben verloren haben, weil sie vergewaltigt worden sind.

Junge Menschen sehen aus unterschiedlichen Gründen nur noch in der Selbsttötung einen Ausweg. Etwa, weil sie sexuell missbraucht wurden, weil sie ungewollt schwanger geworden sind oder weil sie sich einsam fühlen. 80 Prozent der Hilfesuchenden seien Frauen, sagt Nina von Ohlen. Aber: Männer setzen Suizidabsichten häufiger um als Frauen.

Kein Zweifel, die Krisenberatung ist eine ernsthafte Angelegenheit. Aber: Die jungen ehrenamtlichen Helfer müssen nicht die Verantwortung für das Leben eines anderen übernehmen, betont Nina von Ohlen: „Niemand muss traurig sein, um Krisenberater zu sein.“