Ex-Michel-Pastor Helge Adolphsen weiß, wie Tote nicht dem Vergessen anheimfallen

Dunkler November. Mit Volkstrauertag und dem Toten- und Ewigkeitssonntag. Am Sonntag findet auf dem Ehrenfriedhof des Neuen Friedhofs in Harburg eine Gedenkfeier statt. Wie an vielen Orten im Umland. Kein Heldengedenktag. Die Zeit der Glorifizierung gefallener Soldaten ist gottlob vorbei.

Lange schon auch in der segensreichen Arbeit des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Ich schätze sie, seit ich vor Jahren mit Offizieren der Bundeswehr in Verdun war. Ich musste einfach allein durch die unendlich langen Reihen mit schlichten Kreuzen gehen. Nur Namen, Geburts- und Sterbedatum der im Ersten Weltkrieg Getöteten darauf. Fast alle im jungen Alter von 20 Jahren. Ich wurde immer fassungsloser.

Später, noch vor der Wende 1989, war ich mit einer Delegation auf dem deutschen Soldatenfriedhof in Moskau. Ich erfuhr von den Bemühungen des Volksbundes, in zähen Verhandlungen mit den ehemaligen „Feinden“ neue Friedhöfe anzulegen. In der Ukraine, in der Weite Russlands und an anderen Orten. Er organisiert Fahrten mit Angehörigen von Gefallenen. Ihre Toten galten lange als vermisst. Aber das tiefe Bedürfnis der Hinterbliebenen, endlich den Ort des Grabes zu wissen und zu besuchen, kam nie zur Ruhe. Immer noch trauern Menschen um ihre Männer und Söhne. Auch nach 70 Jahren.

Trauer braucht Zeit. Und Trauern braucht sichere Orte, um die schmerzlichen und die schönen Erinnerungen dort festzumachen. Damit die Gedanken nicht ziellos bleiben und das Herz endlich Frieden findet.

Ich habe so manche Gespräche mit Menschen geführt, die mit der anonymen Beisetzung nicht fertig wurden. Sie hatten den letzten Willen des geliebten Menschen, auf einem großen Gräberfeld unter dem grünen Rasen bestattet zu werden, erfüllt. Ohne Namen und Grabstein. Aber sie brauchten einen festen Ort, zu dem sie gehen konnten. Eine Frau sagte: „Ich kann nur da meinem Mann nahe sein und mit ihm sprechen.“ Sie bat mich, bei der Umbettung zu helfen. Das gelingt kaum.

Ich habe erst langsam gelernt, dass diese Orte sehr verschieden sein können. Früher war Trauern an Sitten, Rituale und Konventionen gebunden. Es gab das Trauerjahr. Man trug Schwarz, weil und wie alle es taten. Heute ist Trauer privatisiert. Sie ist so individuell und unterschiedlich geworden wie wir alle sind und wie wir leben.

Auch die Trauerorte haben sich verändert. Es gibt Gemeinschaftsgräber für Tot- und Frühgeburten und für AIDS-Tote. Wir haben am Michel eine Gemeinschaftsgrabstätte für „Michaeliten“ gegründet. Leitwort: Wir wollen im Leben, im Sterben und im Tod zusammen sein. Der HSV hat in der Nähe der Imtech-Arena eine Ruhestätte für seine Vereinsmitglieder und Fans eingerichtet. Aber es gibt auch das Andere. Ein befreundeter Architekt hat ein Mausoleum für einen Hamburger auf Ohlsdorf entworfen und gebaut. Ganz wie früher. Und viele gehen in diesen Tagen auf die Friedhöfe und schmücken die Gräber.

Immer mehr Ruhestätten in Friedwäldern entstehen. Da gibt es Gemein-schaftsbäume mit zehn Urnengräbern. Mit Namenstafeln. Blumen und Grablichter sind nicht erlaubt. Manche finden einen Ort in ihrem Herzen und in ihrer Erinnerung. Das ist der sehr persönliche Ort für ihr Gedenken. So bewahren sie ihre Verstorbenen in Liebe. Eine Firma wirbt damit, Asche zu kristallisieren und zu Schmuck zu machen. Kosten: 10.000 Euro. Eine Frau trägt ihn ständig an ihrem Hals. So habe sie ihren Mann immer ganz nah an ihrem Körper, sagt sie. Für mich befremdlich.

Trauern braucht geschützte, sichere und gute Orte. Durchaus unterschiedlich und selbstbestimmt. Aber unsere Toten brauchen auch solche Orte der Geborgenheit. Sichtbare oder tief empfundene Orte. Orte, die die Würde gegenüber Toten und Lebenden ausstrahlen. Und sie nicht dem Vergessen anheimgeben.