Die Disponenten in der Rettungsleitstelle des Landkreises haben einen verantwortungsvollen Job. Und die Belastung für die Retter nimmt ständig zu.

Winsen . Ein schöner Novembermorgen: Kein Hauch regt die letzten, bunt im Sonnenlicht leuchtenden Blätter. Die Luft trocken, die Sicht ist gut. Heute gibt es auf den Straßen kein erhöhtes Gefahrenpotenzial – durch Nebel, Nässe oder Glätte, wie sonst so oft um diese Jahreszeit.

Burkhard Giese und Kai Haugg freuen sich auf einen entspannten Dienst. Die Männer gehören zum zehnköpfigen Disponenten-Team der Rettungsleitstelle des Landkreises Harburg. Die Notrufzentrale im Kreishaus ist täglich rund um die Uhr mit zwei Mann besetzt. Heute sitzen Burkhard Giese und Kai Haugg mit Headset vor einer Monitor-Reihe, um Notrufe entgegen zu nehmen und Feuerwehr- und Rettungskräfte zu koordinieren.

Vor dreieinhalb Stunden hat ihre Schicht begonnen. In dieser Zeit haben die beiden bereits 30 Einsätze alarmiert. In der Hälfte der Fälle hatte die 112 auf dem Display Schreckliches angekündigt: Ein verbrühtes Kind, ein Treppensturz, ein Arbeitsunfall mit schweren Schnittwunden, ein Küchenbrand, eine nicht ansprechbare Person – vermutlich Schlaganfall.

Doch die 112 ist leider auch aus banalen Anlässen gewählt worden. Etwa, um die Telefonnummer des ärztlichen Notdiensts zu erfragen. Oder um von der Freiwilligen Feuerwehr das Kätzchen vom Dach bergen zu lassen. Immerhin: Dank Rufnummernerkennung ist die Zahl vorsätzlicher Notrufmissbräuche deutlich zurückgegangen.

Burkhard Giese und Kai Haugg wissen nie, was während der zwölfstündigen Schicht auf sie zukommt. Sicher ist: Nichts bringt sie aus der Ruhe. Tote, Verstümmelte, Verletzte – beide sind an Horror-Szenarien gewöhnt. Burkhard Giese, 48, gehört seit früher Jugend der Freiwilligen Feuerwehr Winsen an. Seit elf Jahren ist er Disponent der Rettungsleitstelle und trotzdem immer noch äußerst aktiv bei den ehrenamtlichen Blauröcken. Kai Haugg, 41, fährt seit seinem Zivildienst Rettungswagen, lange Zeit im Intensivmobil. Obwohl er seit 2009 in der Notrufzentrale arbeitet, lenkt er in seiner Freizeit Krankenwagen. Beruf und Hobby – für beide Männer bedeutet das das Gleiche: Menschen in Not zu helfen.

Für die Arbeit in der Notrufleitstelle ist eine Ausbildung zum Brandmeister des gehobenen technischen Dienstes und zum Rettungsassistenten Voraussetzung. Neben Fachkompetenz braucht es Begeisterung für die Aufgabe. Denn der Leistungsdruck nimmt ständig zu. 2012 wurden von der Rettungsleitstelle des Landkreises Harburg 150.000 Anrufe bearbeitet. Das bedeutet einen Anstieg von 27 Prozent allein in den vergangenen fünf Jahren. Seit Gründung der Winsener Notrufleitstelle 1980 hat sich die Zahl der geleisteten Feuerwehr- und Rettungsdiensteinsätze nahezu verdreifacht.

Das liegt zum einen an der höheren Einwohnerzahl, zum anderen am demografischen Wandel. Es gibt heute etwa 2400 Pflegeheimplätze im Landkreis Harburg. Entscheidend trägt das stärkere Verkehrsaufkommen zum Anstieg der Notfälle bei. Durch die große Autobahndichte und die Zunahme des Lastverkehrs sind schwere Verkehrsunfälle beinahe an der Tagesordnung.

Dass das Telefon in der Rettungsleitstelle nicht still steht, liegt aber auch daran, dass im Handyzeitalter fast jeder die Möglichkeit hat, von überall anzurufen. „Bei einem Unfall bekommen wir ununterbrochen davon Meldung, bis die ersten Einsatzkräfte vor Ort sind“, sagt Burkhard Giese.

Auch jetzt klingelt das Telefon wieder. Eine schluchzende Frau. Sie ist kaum zu verstehen. Kai Haugg gelingt es, sie so weit zu beruhigen, dass er die Informationen bekommt, die er braucht: Wer ruft an? Wo ist was passiert? Wie viele Personen sind betroffen? Welche Verletzungen oder Erkrankungen liegen vor? Kai Haugg gibt die erfragten Daten in den Computer ein, klickt auf „Unfall mit eingeklemmter Person“. Der Rechner zeigt ihm, welche und wie viele Rettungskräfte zum Unfallort geschickt werden sollten. Ein Tastendruck genügt, um die Informationen elektronisch an Rettungsfahrzeuge und Feuerwehrwachen weiterzuleiten.

Zwischen der primitiven Ausrüstung der Anfangsjahre und der heute verwendeten Technik liegt ein himmelweiter Unterschied. Dennoch ist sie bereits wieder veraltet. Gerade startet die Umstellung auf Digitalfunk. Das kostet Geld: Allein 122.000 Euro jährlich muss der Landkreis künftig für die Nutzung des Digitalfunknetzes der Polizei zahlen. Die Anschaffungskosten der 6000 Alarmierungs-Geräte für die Mitglieder der 107 Feuerwehren im Landkreis müssen die Gemeinden stemmen. Das Investitionsvolumen in EDV- und Kommunikations-Technik zur Rettung von Menschenleben ist Millionen schwer und der Nutzen beachtlich.

Dennoch bleibt die Verantwortung bei Menschen wie Burkhard Giese und Kai Haugg. Eine der größten Herausforderungen: Die Gefährdungssituation richtig einzuschätzen. Und zwar allein aufgrund der Schilderung von – häufig geschockten – Laien. Die Professionalität der Disponenten bei der Gesprächsführung entscheidet oftmals über Leben und Tod. Die höchste Kunst der Notruf-Gespräche ist die sogenannte Telefon-Reanimation. Der im Allgemeinen von der Situation überforderte Anrufer ist telefonisch in die Lage zu versetzen, bis zum Eintreffen der Rettungskräfte Erste Hilfe zu leisten. Die Winsener Disponenten werden demnächst entsprechend geschult – einmal mehr. Die Anforderungen steigen beständig.

Vermutlich werden Notrufe bald mehrsprachig angenommen werden müssen. Heute sprechen Burkhard Giese und Kai Haugg im Job zwar nur Deutsch. Dennoch sind sie mit verschiedenen Sprachen konfrontiert: Der radebrechenden Türkin, dem Lkw-Fahrer aus Osteuropa, den Urlaubern aus Schweden. Und mit dem Fachchinesisch des Arztes, dem Lallen des Betrunkenen und den erschrockenen Worten des Kindes, das beim Spiel versehentlich die Gardine angezündet hat.

Das Telefon läutet jetzt unaufhörlich. Burkhard Giese und Kai Haugg sprechen gleichzeitig. Das Display zeigt drei weitere Anrufe in der Warteschleife. Routiniert arbeiten die Männer einen nach dem anderen ab. Niemals denken sie über die Schicksale nach, von denen sie erfahren.

Und wenn heute die Sonne untergeht, werden sie die Tür der Notrufleitstelle zufrieden hinter sich schließen und die Eindrücke des Tages im Kreishaus lassen. Anders ist er nicht auszuhalten, ihr Traumjob.