Archäologen rekonstruieren in der Schloßstraße anhand von Fundstücken, wie die Harburger früher lebten

Wie lebten die Harburger vor 400 Jahren? Oder vor 600 Jahren? Um das herauszufinden, wühlt sich ein Team aus zwei Archäologen, zwei Technikern, vier Studenten und zehn Grabungshelfern seit März 2012 an der Harburger Schloßstraße systematisch durch das feuchte Erdreich. Auftraggeber ist das Archäologische Museum Hamburg mit Sitz in Harburg. Die Forscher verzeichnen beachtliche Erfolge.

Geschützt von einem großen Zelt liegt eine Fläche von 42 mal 19 Metern offen für die Forscher – das Grabungsfeld mit den Nummern 4 und 5. Messgeräte stehen herum, eine Gruppe Männer fachsimpelt. Einer der Grabungshelfer ist Jan Hencke (44), der mit einem Metalldetektor den durch ein Förderband vor das Zelt geschütteten Sand durchforstet – und immer wieder fündig wird. „Wir finden Werkzeuge, Nägel, Waffenteile, Armbrustbolzen, Pfeilspitzen, Messer und Dolche“, sagt Hencke. Er ist warm angezogen, trotz der Sonne macht sich die Herbstkälte bemerkbar.

Die Grabungen in Harburgs Untergrund finden nicht im Verborgenen statt. Jeweils mittwochs können sich Neugierige unter fachkundiger Führung jeweils von 14 bis 15 Uhr über die Zwischenergebnisse informieren. 10.000 bis 11.000 Fundstücke haben die Forscher und ihre Helfer bereits ans Tageslicht befördert, schildert Miriam Heun (32). Stolz präsentiert die freiberufliche Archäologin den Besuchern besondere Fundstücke, darunter eine Kanonenkugel, Tabakpfeifen aus Ton und unzählige Scherben. Eine Tellerscherbe ist mit dem biblischen Motiv von Judith und Holofernes verziert.

Fündig werden die Forscher vor allem in früheren Aborten. Heun: „Kloaken sind wahre Goldgruben für Archäologen.“ Alles was nicht mehr gebraucht wurde landete zusammen mit den Fäkalien in den Toiletten. Hier stießen die Grabungsteilnehmer auch auf frühe Produktpiraterie wie etwa auf Fayencen aus der niederländischen Stadt Delfte. Die dortigen Handwerker imitierten chinesische Porzellankunst. So erinnern manche gemalten Windmühlen beispielsweise an Pagoden – ein Stilmix, der offenbar von den damaligen Kunden geschätzt wurde.

„Wir erhoffen uns Einblicke in das Leben der alten Harburger“, benennt die 32-Jährige das wissenschaftliche Ziel des Projekts. „Vieles kennen wir schon von früheren Grabungen. Wir wissen, wer hier gelebt hat, es gibt Hinweise auf Schiffsbauer, Schmiede, mindestens einen Schneider, Tuchmacher und Händler.“ Hier wohnten und arbeiteten vor allem die Bessergestellten, klärt ihr Kollege Kay-Peter Suchowa (43) auf: „Die Lage am alten Rathaus, die Nähe zum Harburger Schloss und zum Markt deutet auf höhere Stände hin, die hier gelebt haben.“ Vorne an der Straße lagen die Kaufmannskontore, im hinteren Bereich lebte das Gesinde. Auch teure Importe würden auf „bessere Kreise“ verweisen. Suchowa: „Hierzu gehört etwa aufwendig hergestelltes Steingut aus der rheinländischen Stadt Raeren im heutigen Belgien. Besonders beeindrucke ihn ein Ring aus Messing, der vermutlich aus dem 13. oder 14. Jahrhundert stammt: den „Dreikönigsring“ mit den biblischen Königen Melchior, Balthasar und Casper. „Der stammt aus dem Grabungsfeld 2.“ Dort befand sich vom 13. bis zum 17. Jahrhundert der alte Harburger Markt. Der neue Markt entstand am Sand.

Was bedeuten dem Archäologen Suchowa die bis zu vier Meter tiefen Grabungen nahe dem Harburger Hafen? „Aufregend ist, dass wir hier ungestörte Siedlungsabfolgen vom 13. bis zum 19. Jahrhundert beobachten können“, schwärmt der Wissenschaftler. Das Projekt an der Harburger Schloßstraße sei nach Lübeck „die zur Zeit zweitgrößte Innenstadtgrabung Deutschlands“, berichtet der Forscher. Auf dem Baugrund sollen nach Abschluss des Projekts im August 2014 Eigentumswohnungen entstehen.

Suchowas Kollegin Miriam Heun interessiert sich besonders für organische Funde wie etwa lederne Kinderschuhe. Auch Spielzeug, eine Ritterfigur aus dem 13. Jahrhundert, zogen die Forscher aus dem Schutt. Eine schwere Kanonenkugel weist auf kriegerische Fehden hin. Tatsächlich war das Gebiet immer wieder hart umkämpft. Während das benachbarte Hamburg durch seine Wallanlagen von den Plünderungen während des 30-jährigen Krieges (1618-1648) verschont blieb, hatte Harburg weniger Glück. Zwar gab es Festungsanlagen um das Harburger Schloss – die einstige Horeburg –, aber sie hielten einem militärischen Sturm häufig nicht stand. Auch die benachbarten Hanseaten waren nicht immer friedlich, so Heun: „Die Hamburger haben die Harburger öfters angegriffen.“

Doch wohin mit den vielen Fundstücken? Diese könnten nicht alle aufbewahrt werden, erläutert Heun: „Das wird sonst zu einem logistischen Problem.“ Die Grabungen habe nach EU-Recht der Investor und Bauherr finanzieren müssen, und eigentlich müsse er auch die Auswertung finanzieren. „Aber an diesem Punkt findet das EU-Recht derzeit bei uns keine Anwendung.“ Das Team hoffe daher „auf einen Sponsor, der auch eine Publikation in Gestalt eines Buches und eventuell eine Ausstellung finanziert.“ Einige Fundstücke sind bereits im Archäologischen Museum zu sehen. Doch ob es tatsächlich noch eine große Ausstellung über das Leben der Harburger im 13., 14., 15. oder 16. Jahrhundert geben wird, steht derzeit noch in den Sternen.