Wochenmarkt in Neugraben. Jeden Sonnabend ein Stelldichein. Für viele kein Muss, sondern ein Genuss.

Man sieht sich. Und man spricht miteinander. Man redet über Gott und die Welt. Und über die Wahl morgen. So auch vor einer Woche. Meine Frau und ich stehen in einer Schlange vor einem Gemüsestand. Gut für den Biohof, die lange Schlange. Hinter uns ein erregtes Gespräch zwischen zwei Ehepaaren. Über die Wahl. Offensichtlich ist der Wahlkampf gar nicht so langweilig. Aber es geht nicht um Frau Merkel oder Herrn Steinbrück. Sondern um den Volksentscheid über den Rückkauf der Hamburger Strom-, Fernwärme- und Gasleitungsnetze. Die Aufregung gilt der Kirche. Und ihrer Unterstützung der Initiative, die für den Rückkauf durch die Stadt ist. Und das mit Kirchensteuermitteln. Sagt der eine ältere Mann: „Als ich gelesen habe, dass der Leiter der Diakonie der Initiative, deren Vertrauensperson er ist, eine Bürgschaft über 25.000 Euro gegeben hat, zitterten mir die Hände. Meine Firma ist niemals das Risiko einer Bürgschaft eingegangen. Das darf die Kirche auch nicht machen!“ Eine etwas jüngere Frau hält dagegen: „Ich finde es gut, wenn sich die Kirche einmischt, wo es um die Bewahrung der Schöpfung geht. Und mit dem Volksentscheid der Demokratie von unten stärkt.“ Ein Mittfünfziger: „Darum geht es doch gar nicht. Hier hat ein Mann der Kirche eigenmächtig Kirchensteuern eingesetzt, um als Mitinitiator der Initiative den Rückkauf der Netze abzusichern.“ Jetzt mische ich mich ein. Ich gebe mich als Mann der Kirche zu erkennen. „Ich will mich nicht in die Pro und Contra Volksentscheid einmischen und nicht über die möglicherweise zwei Milliarden Euro streiten. Die evangelische Kirche soll sich zur Energie und Daseinsvorsorge äußern. Und das mit kritischen Begleitgedanken. Ich halte es aber für falsch, wenn ein Mitarbeiter unserer Kirche sein persönliches Engagement für eine lobenswerte Initiative ohne eine Abstimmung mit den Entscheidungsgremien der Kirche finanziell unterstützt. Die Kirche hat kein gottgegebenes und kein besseres Wissen in politischen Fragen als engagierte und mündige Bürger.“

Die Verkäuferin am Gemüsestand beendet unsere Diskussion: „Wollen Sie nun etwas kaufen?“ Beim Eintüten von fünf Pfund Heidekartoffeln sagt sie: „Ich werde dieses Mal nicht wählen. Die Wahlunterlagen habe ich weggeworfen.“ „Warum das?“ fragt meine Frau. Die Frau am Stand kommt richtig in Fahrt: „Das muss anders werden. Ich ärgere mich über die vielen Jugendlichen aus Russland und aus der Türkei, die hier Straftaten begehen. Die sind schon lange hier. Und liegen auf der faulen Haut. Wer kriminell ist, muss sofort raus aus Deutschland!“ Haben wir richtig gehört? Ich halte dagegen: „Es ist für viele von ihnen nicht einfach, Arbeit zu finden.“ Das lässt sie nicht gelten: „Ich bin aus Russland und alleinerziehend. Ich habe zwei Jobs, damit mein Sohn eine ordentliche Ausbildung erhält.“ Meine Frau argumentiert nun als Lehrerin: „Genau darum geht es doch, um gute Bildung und Ausbildung. Ich bringe einer türkischen Mutter, die nie zur Schule gegangen ist, bei uns zu Haus Deutsch bei. Diese und andere Mütter können nicht genug dafür tun, dass ihre kleinen Kinder die deutsche Sprache frühzeitig lernen.

Geschieht das nicht, haben sie später wenig Chancen. Tun Sie doch was dagegen! Und wählen Sie die Partei, die das für Sie am überzeugendsten vertritt.“ Sie hört nicht auf Argumente. Und sagt nur: „Alle kriminellen Jugendlichen müssen raus. Ohne Wenn und Aber.“

Wird sie vielleicht doch wählen gehen? Ich habe ihr nicht gesagt, welche Partei sie wählen soll. Ich sage nur allen: „Geht wählen!“ Die Zeiten sind gottlob vorbei, als die Kirchen Hirtenworte oder Wahlempfehlungen von den Kanzeln herab gaben. Das war missbräuchliche Einmischung. Davor habe ich mich immer gehütet. Ich habe bewusst keiner Partei angehört, um frei zu sein. Und aus Respekt vor der Entscheidungsfreiheit Anderer. Ich habe mich aber immer zu wichtigen Fragen, die uns alle betreffen, als Mann der Kirche mit kritischen Begleitgedanken eingemischt. Denn die Kirche darf die Bürgerinnen und Bürger weder bevormunden noch parteipolitisch agieren. Aber sie sollte ihre Mitglieder anregen, verantwortlich und politisch zu handeln.

Helge Adolphsen war von 1987 bis 2005 Michel-Hauptpastor. Er lebt mit seiner Ehefrau in Hausbruch, engagiert sich nach wie vor in zahlreichen kirchlichen und außerkirchlichen Belangen und ist gefragter Ansprechpartner in Politik und Wirtschaft. Seine Kolumne „Adolphsens Einsichten“ erscheint an jedem zweiten Sonnabend exklusiv in der „Harburg& Umland“-Ausgabe des Hamburger Abendblattes.