Eine unerfahrene Pflegerin hält eine lebendige Frau für tot. Der Lebensgefährte eilt nach Hause und stellt erstaunt fest: Die Totgeglaubte lebt!

Moorwerder . Innerhalb von zehn Minuten hat Holger Haase erst die Hölle und dann den Himmel erlebt. Zunächst erfährt er am Arbeitsplatz von seinem Hausarzt, dass seine pflegebedürftige Lebensgefährtin verstorben sei. Der Pflegedienst hatte den Mediziner benachrichtigt. Der 55-Jährige mag das nicht wahrhaben und eilt gegen den Rat des Arztes sofort nach Hause nach Moorwerder. Er trifft vor dem Arzt und der Polizei ein - und stellt verblüfft fest: Die Totgeglaubte lebt! Als Holger Haase seine vermeintlich tote Lebensgefährtin an den Kopf fasst, öffnet Gina Henning ihre Augen. „Einen Lebendigen für tot zu erklären, das ist die Hölle“, sagt er noch einen Tag später fix und fertig.

Rein rechtlich ist Gina Henning, 57, nie für tot erklärt worden. Kein Arzt hat den Tod festgestellt. Trotzdem musste Holger Haase glauben, dass seine Lebensgefährtin verstorben sei. Laut Polizei hat es eine unerfahrene Pflegerin an ihrem ersten Arbeitstag die offenbar besonders tief schlafende Frau für tot gehalten. „Nach unseren Erkenntnissen hat eine Pflegerin, die ihren ersten Arbeitstag hatte, vergessen, den Puls zu messen“, sagt Wilhelmsburgs Polizeikommissariatsleiter Eduard Goldade. Die Unbedarftheit des Pflegedienstes habe dann dazu geführt, dass Holger Haase schließlich die Falschmeldung vom Tod seiner Lebensgefährtin erreicht habe. Strafrechtlich habe das keine Folgen. Für die Polizei sei dies ein Fall aus der Kategorie: „So ist das Leben!“

Holger Haase schließt gerade auf dem Gelände des Kupferproduzenten Aurubis „einen Container abwassermäßig an“, wie es in seiner Branche heißt, als um 11.15 Uhr das private Handy des Gas- und Wasserinstallateurs klingelt. Er ahnt Schlechtes. Nur wenige kennen diese Nummer. Wenn jemand sich um diese Uhrzeit auf seinem privaten Mobiltelefon meldet, könne es sich eigentlich nur um seine Lebensgefährtin handeln, die seit vier Jahren ein schwerer Pflegefall ist. Damals war sie aus 3,50 Meter Höhe vom Dachboden gestürzt und hatte sich schwere Verletzungen am Kopf zugezogen. Ein Arzt im Krankenhaus habe ihn darauf vorbereitet, dass seine Lebensgefährtin die Nacht möglicherweise nicht überleben könnte, erinnert sich Holger Haase. Doch Gina Henning blieb am Leben.

Holger Haases böse Vorahnung bestätigt sich. Sein Hausarzt ist am Mobiltelefon und bittet ihn, sich zu setzen. Der Pflegedienst habe ihn informiert, dass Gina Henning verstorben sei, fährt der Mediziner fort. Holger Haase mag das nicht glauben: „Sie war doch noch fit, als ich am Morgen das Haus verlassen habe“, denkt er sich. Der Mediziner rät ihm abzuwarten, bis er und die Polizei in dem angemieteten, idyllisch gelegenen Fachwerkhäuschen in Moorwerder eintreffen. Doch Holger Haase eilt ohne Umschweife nach Hause. Sechs Minuten braucht er mit dem Auto, trifft als Erster ein und rennt ins Haus.

Zunächst denkt er, den letzten Anblick der Frau, mit der er seit 20 Jahren zusammenlebt, zu Gesicht zu bekommen. Holger Haase wundert sich aber, dass seine Lebensgefährtin sich so warm anfühlt. „Ich tätschelte ihre Wangen, und dann machte sie die Augen auf“, erzählt er. Er habe Erleichterung gefühlt, sagt er noch. Zwei leitende Mitarbeiterinnen des Pflegedienstes und Polizisten waren inzwischen eingetroffen. „Sie sprachen mir ihr Beileid aus“, sagt Holger Haase, „und ich antwortete: ‚Wofür? Sie lebt doch noch!‘“

Eine Leiche, die gar keine ist. Mediziner bezeichnen verschiedene Phänomene einer scheinbaren Auferstehung als Lazarus-Phänomen. Benannt ist es nach dem Heiligen Lazarus, den Jesus nach Überlieferung der Bibel von den Toten auferweckt hat. Erst vergangene Woche sorgte ein Fall für Schlagzeilen, als eine 72 Jahre alte Frau nach einem Autounfall auf der Autobahn 23 bei Itzehoe an der Unfallstelle für tot erklärt wurde und auf dem Weg zur Leichenhalle im Sarg zu Bewusstsein kam.

Holger Haase wundert sich, dass der Pflegedienst zu der Erkenntnis kommen konnte, seine Lebensgefährtin sei verstorben. Jemand schläft wie ein Toter, lautet eine Redensart. Der Mann aus Moorwerder wisse zwar, dass seine Lebenspartnerin Medikamente nehme, die zu einem tiefen Schlaf führen. „Aber Mitarbeiter eines Pflegedienstes sind dich dazu ausgebildet, einen Toten zu erkennen“, sagt Holger Haase. „Man hätte ihr dich einen Spiegel unter die Nase halten können, um zu erkennen , dass sie atmet. Oder einfach mal schütteln können.“

Hat der Hausarzt den Lebensgefährten zu früh benachrichtigt? Nein, meint Holger Haase, denn er habe davon ausgehen müssen, dass der Pflegedienst einen Rettungssanitäter gerufen habe. Tatsächlich haben die Länder gesetzlich geregelt, dass, wer eine Leiche auffindet, unverzüglich die verantwortlichen Angehörigen zu benachrichtigen seien. Auch Wilhelmsburgs Polizeichef Eduard Goldade sagt, dass die nächsten Angehörigen möglichst früh zu benachrichtigen seien – am besten vom Hausarzt. Das sei der häuslichen Situation geschuldet, sagt er.

Die Polizei ist zu der Erkenntnis gekommen, dass der Pflegedienst zu unbedarft gehandelt habe. Die Pflegedienstleitung hätte nach dem Anruf ihrer Mitarbeiterin die entscheidende Frage stellen müssen, ob die Patientin noch einen Puls habe, sagt Godade. Die Polizei wird in einem Bericht das Bezirksamt Mitte benachrichtigen. Die Bezirksämter in Hamburg sind für die Aufsicht der Pflegedienste zuständig.

Seit 20 Jahren leben Holger Haase und Gina Henning zusammen. Er hat sie auch nach dem Unfall, bei dem sich die Frau Schäden am Gehirn zugezogen hatte, nicht im Stich gelassen. „Wir hatten viele gute Jahre, hatten ein Haus und ein Boot“, sagt der 57-Jährige, der neben seiner Tätigkeit als Gas- und Wasserinstallateur seien Lebensgefährtin zu Hause pflegt. Aus einem Pflegeheim hat er sie wieder herausgeholt. Holger Haase wollte seine Frau, wie er sagt, wieder so hinbekommen, dass sie sich mit Hilfe eines Rollators bewegen könne. Hoffnung mache ihm, dass sie nach Absetzung eines Medikamentes wieder lebendiger, offener wirke.

Bei Holger Haase hat das schockierende Erlebnis Spuren hinterlassen. Er habe kein Vertrauen mehr in die Pflegedienste, sagt er. Er habe auch Angst, kurz einkaufen zu gehen und seine Lebensgefährtin allein zu lassen. Angst, wenn das Handy wieder klingelt. „Mein Leben“, sagt er, „ist jetzt so richtig schwer geworden.“